Auf Grindr und Tinder läuft es so: App öffnen, Fotos anschauen, Kurznachrichten schreiben, Treffen vereinbaren.

Illustration: Kalle Mattsson

Joel Simkhai (rechts) ist der Mann hinter Grindr. Die schwule Dating-App sortiert mögliche Partner nach ihrer Entfernung. Tinder vertraut auf ein ähnliches Konzept. Diese App richtet sich aber an Heteros.

Foto: Hersteller

Wenn Joel Simkhai jeden Morgen in sein Büro geht, verkauft er Sex. Oder wie er es sagt: Er bringt Menschen zusammen. In einem viergeschößigen Glasbau in Los Angeles, an den Seiten rot angestrichen, Erdgeschoß, Büro 101. Hier sitzt Grindr. Kennen Sie nicht? Dann sind Sie nicht schwul. Trotzdem wird die Firma, die eine Applikation für Smartphones programmiert, schon mal Ihre Lebenswelt beeinflusst haben oder die von Kindern, Enkeln oder Cousins. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich das Dating dank Grindr verändert. Menschen treffen einander nicht mehr nur in Cafés, Bars oder auf Kreuzfahrtschiffen, sie suchen im Internet nach Partnern - und orten plötzlich sogar mit dem Smartphone andere Singles.

Dating-Dinger: Grindr und Tinder

Tinder heißt die Applikation, die sich kennenlernfreudige Heterosexuelle seit eineinhalb Jahren auf ihr Telefon herunterladen - und über die junge Menschen in Europa oder Amerika reden. Hast du schon? Willst du mal? Der US-Talkmaster Conan O'Brien hat gerade für seine Show vor laufender Kamera Tinder ausprobiert. Es führte nicht ganz zu einem Date, aber spätestens seitdem reden auch die Älteren über dieses komische Dating-Ding. "Das ist ein bisschen wie Grindr", erklärte er seinen Zuschauern.

Auf Grindr und Tinder läuft es so: App öffnen, Fotos anschauen, Kurznachrichten schreiben, Treffen vereinbaren. LTR? NSA? DTF? Das sind keine Geheimdienste, sondern Dating-Abkürzungen: Long Term Relationship (feste Beziehung), No Strings Attached (ohne weitere Verpflichtungen), Down To Fuck (Äh, Sex?).

GPS-Daten als Basis

Erfunden hat diese Art des Aufeinandertreffens Joel Simkhai. Der US-Amerikaner mit israelischen Wurzeln hat vor fünf Jahren die erste Dating-App erdacht, die auf GPS-Daten basiert. Sie sortiert mögliche Partner nicht nach gemeinsamen Interessen, wie es Partnerbörsen tun, sondern geht danach, wer sich gerade in der Nähe befindet. Eine simple Idee, einfach zu schauen, wer um die Ecke verfügbar ist: 120 Meter entfernt, gut, 1,2 Kilometer, ach, vielleicht doch ein bisschen weit weg.

Sunset Boulevard

Wie er darauf gekommen ist, soll Joel Simkhai heute erklären. Sunset Boulevard, Los Angeles. Die Adresse klingt nach Träumen, Glamour, Palmen - wenn man noch nie vorher auf dem heißen Pflaster Hollywoods stand. Links eine Baumschule, rechts ein Biocafé, gegenüber ein Hotel, das so heruntergekommen aussieht, dass es schon wieder Kulisse für einen Horrorfilm sein könnte. Rechts hinter der Eingangstür des Großraumbüros schmiegen sich ein Dutzend Bücher aneinander. Es sind Klassiker der Schwulenliteratur, "Geschlossener Kreis" von Gore Vidal, "Ein einzelner Mann" von Christopher Isherwood oder "Schwuchteln" von Larry Kramer.

Matt, der den ominösen Titel "Quality Manager" trägt, hat sie dort platziert. Er ist Mitte 20, ein schlanker Mann mit schwarzen Haaren, der damit etwas Hintergrundbildung unter die knapp 30 Angestellten streuen möchte. Die tagen in Konferenzräumen, die Castro oder West End heißen - Anspielungen auf Homo-Viertel rund um die Welt. Der Gründer sitzt normalerweise in einem verglasten Büro rechts um die Ecke. Über seinem Büro steht "0 feet away" - eine Referenz an das Prinzip der Nähe, auf das Grindr seinen Erfolg gründet. An der Wand hängt das Firmenlogo, ähnlich einer Stammesmaske aus Afrika, angefertigt von einer Künstlerin aus Los Angeles. Die "Vanity Fair" hat es einmal so beschrieben: "eine Mischung aus Vaudeville-Maske und etwas, was Hannibal Lecter tragen würde".

Unter diesem Ding würde also Joel Simkhai sitzen, wenn Matt ihn nicht sofort entschuldigt hätte. Der 37-Jährige musste kurzfristig zu einem Geschäftstermin nach London reisen. Ein paar Tage später ruft er allerdings per Skype an. Das Internet funktioniert bei ihm gerade schlecht, schon ein wenig irritierend für eine Firma, die auf drahtlose Verbindungen angewiesen ist. Das Bild ist eingefroren, dann ist Joel Simkhai mal nicht zu hören, schließlich bricht der Kontakt vollends ab.

Wer ist schwul?

Vielleicht sieht der Grindr-Gründer deshalb leicht unentspannt aus, als es beim zweiten Versuch schließlich klappt. Kurze schwarze Haare, große Augen, ein gehetzter Blick. "Ich habe mich immer schon gefragt, wer in meiner Umgebung so ist wie ich", erklärt Joel Simkhai seinen Impuls, als er Grindr erdachte. "Wer in meinem Umkreis ist schwul? Wer hat Lust, sich mit einem Mann zu treffen?" Zehn Meter hinter der Bürowand könnte ein Kerl hocken, Joel Simkhai würde ihn nicht sehen, aber dank Grindr kann er ihn nun orten. Grindr zeigt wie auf einem Präsentierteller jene Männer an, die sich in unmittelbarer Nähe des Benutzers befinden.

Die klassische Idee von "Junge trifft Junge in einer Bar" hat Simkhai nie gelebt. Als Teenager in einer Kleinstadt im Bundesstaat New York hat er ein paar Freundinnen, so richtig funkt es wohl nicht. Er bemerkt, dass er anders ist. Das Wissen macht ihn einsamer in seinem Heimatort. Zu seinem Glück erobert in den späten 90er-Jahren gerade eine neue Erfindung die privaten Haushalte: das Internet. Mit 18 Jahren loggt er sich zum ersten Mal in einen schwulen Chatroom bei AOL Online ein, legt sich einen Alias-Namen zu, Dolceguy76 ("Weil ich im Jahr davor in Italien war"), und lernt Schwule kennen, ohne nach New York fahren zu müssen. Er studiert in Boston, chattet, trifft Männer. Ein Spaziergang, ein Kaffee, Sex, alles ist möglich. "Diese Anonymität hat mir gefallen", sagt Joel Simkhai.

E-Mail für dich

Das Phänomen ist kein rein schwules. Auch heterosexuelle Menschen beginnen, sich über Chatrooms zu verabreden. Die Hollywood-Romanze "E-Mail für dich" setzt dem 1998 auch filmisch ein Denkmal. Meg Ryan und Tom Hanks finden per virtuellen Flirt zusammen, obwohl sie sich im echten Leben schon mal anschreien.

"Ich habe alle meine ersten Freunde online kennengelernt", erzählt Joel Simkhai. "Was mich aber immer frustriert hat: Bei den Onlinediensten spielte nie eine Rolle, wo sich jemand befand." Da kommt es vor, dass er sich mit einem Mann gut versteht - und erst bei Frage 16 feststellt, dass dieser 600 Kilometer weiter südlich wohnt.

In den frühen Nullerjahren tauchen erste Onlineplattformen auf, über die sich Schwule oder Heteros treffen - schon geordnet nach Städten. Zu dieser Zeit ist es möglich geworden, Fotos hochzuladen, die technische Qualität wird immer besser, die persönlichen Ansprüche steigen (es gehen Nachrichten um, die etwa so lauten: "Bist du zwischen 1,80 Meter und 1,85 Meter, gut trainiert, blond, blauäugig und keine Nervensäge?"), aber der Eingeloggte braucht nach wie vor einen Computer, um in den Netzwerken zu chatten. Die Stanford University stellt 2012 in einer Studie fest, dass Menschen mit Internetanschluss mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Partner finden als welche ohne.

Illustration: Kalle Mattsson

Immer online

Joel Simkhai arbeitet inzwischen bei einer New Yorker Firma, die im Netz Magazin-Abonnements verkauft. Er lebt online, arbeitet online, aber sobald er auf die Straße tritt, ist er offline. Das ändert sich erst mit dem iPhone 3G - das erste Smartphone, das GPS-Daten verwendet. Es kommt im Juli 2008 auf den Markt. Joel Simkhai lebt bereits in Los Angeles, er denkt über seinen Traum nach, "Was wäre wenn?", investiert 5000 US-Dollar, beauftragt Programmierer und entwickelt Grindr als Gratis-App. Im März 2009 kommt die Applikation auf den Markt. In der Beschreibung heißt es bis heute, es sei ein soziales Netzwerk für homo- und bisexuelle Männer. Aus einem Mann sind mehr als fünf Millionen Nutzer pro Monat weltweit geworden. Nur auf den Südseeinseln Nauru und Tuvalu hat niemand Grindr-Profile, in 192 anderen Staaten, sogar wo Homosexualität verboten ist wie in Uganda, Sri Lanka oder den Emiraten, plaudern Männer miteinander.

In Österreich nutzen etwa 25.000 Männer Grindr, in Deutschland sind 177.000 angemeldet, davon kommen 58.000 aus Berlin. Die meisten Schwulen nutzen Grindr in London, beinahe 264.000 Männer sind dort aktiv. In Brasilien hat sich während der Fußball-Weltmeisterschaft die Nutzerzahl um 31 Prozent erhöht. Wahrscheinlich nicht nur, um Ergebnisvorhersagen auszutauschen. Die "Vanity Fair"schreibt 2011 über das Phänomen: "Willkommen in der größten und furchterregendsten Schwulenbar der Welt."

Visuelle Wesen

Das "Kompliment" hat Joel Simkhai schon oft gehört. Auf Grindr ein Foto zu posten bedeutet, sich ohne T-Shirt und natürlich mit einem Tipptopp-Oberkörper abzubilden, der Kopf ist optional zu sehen. Es ist das kapitalistische Schaufensterprinzip auf Dating angewendet: Wir tragen unsere Haut zu Markte.

"Ich weiß, dass uns Kritiker vorwerfen, Menschen auf ihre körperlichen Attribute zu reduzieren", sagt Joel Simkhai. "Ich habe kein Problem damit. Wir alle sind visuelle Wesen, Männer noch mehr als Frauen. Wir fällen Entscheidungen, ob wir jemanden attraktiv finden, doch danach, ob er oder sie uns körperlich anspricht. Sie denken doch nicht: Oh, was dieser Kerl wohl für einen tollen Beruf hat! Nein, Ihre erste Reaktion ist, Mensch, der sieht aber gut aus."

Joel Simkhai hat seine Grindr-App ständig offen, wenn er eine Nachricht erhält, brummt sein Smartphone kurz. Auf dem Profil steht 1,68 Meter, 68 Kilo, weiß. Ob er in einer Beziehung ist? Will er nicht preisgeben. Warum er nichts über sich hineinschreibt? "Was hat da ein Text zu suchen? Grindr ist eine visuelle Erfahrung. Wenn jemand mehr wissen möchte, kann er mich doch fragen."

Tinder für Heteros

Lange war das zwanglose Treffen über eine App ein Vorrecht der Schwulen. Die haben mit Scruff (für bärtige Kerle), Mister (für Ältere) oder Growlr (stämmige Bären) bereits Apps, die auf Untergruppen spezialisiert sind. Heterosexuellen sahen angewidert bis neidisch zu. Zwar hat Joel Simkhai mit Blendr 2011 eine App für Heteros konzipiert, doch sie wird nie zum großen Erfolg. "Vielleicht haben wir unterschätzt, dass Frauen gar nicht so gern preisgeben möchten, wie nah dran sie an einem Mann sind", sagt er.

Tinder wurde 2012 gegründet und hat genau diese Marktlücke gefüllt. Sie führt Frauen und Männer zusammen - allerdings weniger direkt. Auf Grindr können Benutzer jeden anderen anschreiben, bei Tinder muss der andere Partner erst einmal zustimmen, dass er Nachrichten bekommen möchte. Noch ein Unterschied: Bei Grindr werden Millionen Fotos in privaten Chats hin- und hergeschickt, ein Nacktbild gehört zum Standard. Tinder ermöglicht es (noch) nicht, Fotos in die Nachrichten zu integrieren. Ein bisschen Romantik soll das erste Date wohl doch noch haben. "Ich finde Tinder zu langsam", das muss Joel Simkhai natürlich sagen. Manche Nachrichten werden erst Tage später beantwortet, das sei Männern nicht schnell genug, glaubt er. "Die wollen das in Echtzeit." DTF? Sex, jetzt, hier, darum geht es. "Um Menschen miteinander zu verbinden", sagt Simkhai.

Die Liebe kann trotzdem aus drei Buchstaben erwachsen. Etliche Paare haben sich über Grindr oder Tinder kennengelernt, es ist kein Tabu mehr, so wie sich vor zehn Jahren niemand traute einzugestehen, dass er seine Partner im Internet getroffen habe und das nun völlig normal ist - wenigstens bei Menschen unter 40.

Schneller, direkter, härter. Vielleicht gibt es jetzt weniger Blumensträuße am Anfang und mehr Checklisten ("Größe? Alter? Haarfarbe?" ). Es gibt plötzlich mehr Möglichkeiten - und eine Verantwortung sich selbst gegenüber, damit umzugehen. Seinen Partner zu betrügen war nie einfacher. "Das ist nicht die Schuld der Technologie", sagt Joel Simkhai, "sondern der Menschen, und wie sie diese Technik benutzen." Ist jemand in der Nähe, mit dem man darüber reden kann? (Ulf Lippitz, Rondo Digital, DER STANDARD, 20.11.2014)