Eugenie Goldstern (1884 - 1942) war als Ethnografin ihrer Zeit voraus

Foto: mandelbaum verlag

Aus Aststückchen wird eine Viehherde, rudimentär mit dem Messer bearbeitet wird das Holzstück zum stattlichen Widder. Was für den einen primitives bäuerliches Spielzeug, ist für die Forscherin wertvolles Studienmaterial. Eugenie Goldstern, die Bürgertochter aus Wien, reist zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch europäische Alpendörfer, sammelt Stück für Stück dieser Zeugnisse alpiner Kulturen. Die junge Frau ist allein unterwegs, im Gepäck hat sie Notizbuch und Fotoausrüstung. Als Volkskundlerin war Goldstern ihrer Zeit weit voraus. Die Forscherin lebte temporär bei Menschen, deren Lebensweisen sie beobachtete und dokumentierte. Teilnehmende Forschung sollte erst Jahrzehnte später wissenschaftlicher Standard werden.

Der Weg zur Wissenschaft war für Jenja, wie sie in der Familie genannt wurde, nicht vorgezeichnet – eher jener einer guten Ehefrau. Sie wurde 1884 in Odessa als jüngstes von 13 Kindern des jüdischen Getreidehändlerpaares Abraham und Marie Goldstern geboren. Der Papa war ein Lemberger, die kleine Eugenie also Bürgerin der Donaumonarchie. 1905 floh die Familie vor Pogromen nach Wien. Ihre älteren Brüder etablierten sich als Ärzte, gründeten das Fangosanatorium in der Lazarettgasse.

Lieber einfach als bürgerlich

Eugenie zog einfaches Leben den Wiener Salons vor, ließ sich nicht verheiraten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs erforschte sie das Leben der Bergbauern in Bessans (Hochsavoyen). Die fremde Frau mit Kamera, die im Feindesland alles dokumentiert und fotografiert, war den Behörden nicht geheuer. Sie wurde der Spionage verdächtigt und ausgewiesen. Wenig Verständnis für die Forscherin zeigten auch Schweizer Behörden: Im Engadin wird sie als Hausiererin angesehen, muss mangels Berufspatent eine Strafe bezahlen. Goldstern promovierte 1922 an der Universität Freiburg über das "Hochgebirgsvolk in Savoyen und Graubünden". Sie verglich Haustypen und Wohnformen italienischer, französischer, schweizerischer und österreichischer Alpentäler. Formen von Allmende, gemeinsamer Bewirtschaftung, faszinierten sie.

Antisemiten dominieren Volkskunde

Die österreichische Volkskunde, geprägt von Chauvinismus und Antisemitismus, hatte keinen Platz für die Wissenschafterin. Ihre Publikationen, sogar die Instandhaltung ihrer Sammlung im Volkskundemuseum, – sie hatte die Sammlung dem Museum überlassen–, musste sie selbst finanzieren.

Nach der Pogromnacht 1938 wurden die Goldsterns verjagt, ihr Vermögen arisiert. Einem Teil der Familie gelang die Flucht, Eugenie Goldstern nicht. "Während sich das Volkskundemuseum zum Tummelplatz nazistischer Umtriebe entwickelt, wird Goldstern am 14. Juni 1942 von den Nationalsozialisten nach Sobibor deportiert und umgebracht", ist auf der Website des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands zu lesen.

Während Goldsterns Gesamtwerk von Mireille Gansel ins Französische übersetzt und publiziert wurde, fehlt in Österreich die Würdigung ihrer Arbeit. Einzig auf einer Sammeltafel für "jüdische Freunde, Gönnerinnen und Gönner" wird Goldstern vom Volkskundemuseum bescheinigt, "neue Wege eröffnet zu haben". (Jutta Berger, DER STANDARD, 17.11.2014)