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Während die Russen "vor dem Fernseher liegen", protestiert man in Georgien (Bild) gegen Wladimir Putin.

Foto: EPA/ZURAB KURTSIKIDZE

STANDARD: Sie lebten bis zu Ihrem 23. Lebensjahr in Moskau, seit 1990 sind Sie in Deutschland zu Hause. Wie blicken Sie von Berlin aus auf Ihre alte Heimat?

Kaminer: Ich staune. Auch darüber, wie naiv ich und meine Freunde waren. Als die Sowjetunion auseinanderfiel, waren wir froh, dass relativ wenig Blut vergossen wurde. Es hätte ja viel schlimmer kommen können. Aber dann zeigte sich, dass das Imperium nicht tot ist. Russland liegt wie ein Zombie im Grab, und immer wieder kommt eine Hand aus der Erde und greift nach etwas – siehe Tschetschenien, Moldau, Georgien oder nun die Krim.

STANDARD: Im Februar, als Wladimir Putin sich in Sotschi für Olympia feiern ließ, meinten Sie, Russland befinde sich in der Pubertät. Es sei ein schwieriges Land in einer schwierigen Phase, daher müsse man mit ihm reden. Gilt das noch?

Kaminer: Wir sind jetzt leider schon weiter, die Krim ist annektiert und die Pubertät vorbei. Putin ist 62 Jahre alt, isoliert, ein Mann, der die besten Zeiten hinter sich hat. Dementsprechend blickt er auf seine besseren Tage zurück, als er Vertreter eines Imperiums war, das ein Drittel Europas unter seinen Fittichen hatte. Über nichts hat er mit so viel Gefühl geschrieben wie über seine Zeit als KGB-Offizier in Dresden. Damals kam er aus einem großen Land, vor dem sich alle in Acht nahmen.

STANDARD: Die Mehrheit der Russen steht aber offensichtlich hinter ihm ...

Kaminer: Nein, die Russen stehen nicht hinter ihm, die liegen bloß auf dem Sofa vor dem Fernseher, weil sie ja auch keinen Hebel haben, um irgendwo anzusetzen. Die Menschen in Russland wurden immer geführt, sie haben nichts anderes gelernt, als dass der Staat sich um alles kümmert. Das Volk sollte nur strammstehen und gehorchen. Eine europäische Zukunft jedoch würde harte Arbeit voraussetzen. Das ist nicht wie im Kommunismus, wo die Menschen bloß so taten, als arbeiteten sie, und der Staat so tat, als bezahle er die Menschen.

STANDARD: Wer kann Putin stoppen, wenn das Volk auf dem Sofa liegt?

Kaminer: Die Oligarchen, die durch ihn reich geworden sind. Sie dienen ihm gern, solange ihre Hosentaschen voll sind. Aber mit leeren Hosentaschen macht das Dienen dann keinen so großen Spaß mehr.

STANDARD: Brauchte es dann schärfere Sanktionen?

Kaminer: Nein. Russland ist von unfähigem politischem Personal verstopft, und die Sanktionen sind ja wie eine Tablette gegen Verstopfung. Es braucht Zeit, bis die Medizin wirkt. Erhöht man jetzt die Dosis, könnte es Durchfall geben. Es wäre gefährlich, wenn die halbe Welt darin versinkt. Ich bin Optimist, ich habe immer versucht zu lachen.

STANDARD: Der internationale Journalistenpreis "Writing for Central and Eastern Europe" der Austria Presse Agentur und der Unicredit Bank Austria wurde heuer für eine Reportage über die Ukraine vergeben, Sie hielten am Mittwoch in Wien die Festrede. Können Sie über die Ereignisse in der Ukraine überhaupt noch lachen?

Kaminer: Natürlich trauert man um alle Opfer, das ist doch klar. Dennoch finde ich, dass man alldem auch etwas Positives abgewinnen kann. Deutschland überlegt sich endlich, wie es sich von russischen Gaslieferungen unabhängig macht. Und die Ukrainer haben dank Putin begriffen, was an ihnen ukrainisch ist: Er verhalf ihnen zur Selbstidentifikation.

STANDARD: Und was nutzt den Russen?

Kaminer: Vielleicht überlegen sie doch einmal, ob sie noch weiter in Isolation leben können. Zuerst waren sie davon begeistert und waren bereit, in die Vergangenheit zu marschieren. Aber jetzt merken sie langsam, dass es nicht einmal russische Produkte gibt. Irgendwann wird hoffentlich ein anderes Russland existieren. Ich kann nur hoffen, dass es auf dem gleichen Territorium wie heute ist und Putin nicht zu den Grenzen von vor 1989 zurückwill. (Birgit Baumann, DER STANDARD, 20.11.2014)