"Kein Land will außenpolitisch schlecht dastehen, auch Österreich nicht": Renate Winter vom UN-Kinderrechtsausschuss hofft auf etwas mehr Anstrengung.

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STANDARD: Sie setzen sich seit Jahren für Kinderrechte ein. Glauben Sie, dass die Österreicher wissen, worum es da geht?

Winter: Nein. Viel zu viele haben keine Ahnung. Sie wissen, dass Kinder auch Menschen sind - manche sehen sie aber nicht als vollwertig.

STANDARD: Warum ist das so?

Winter: Bei vielen Erwachsenen scheint der Glaube vorzuherrschen, dass sie sowieso wissen, was für Kinder gut ist. Was auch eine Rolle spielt: Es herrscht oft die Meinung vor, dass man sich in Familienangelegenheiten nicht dreinreden lassen muss.

STANDARD: Und die andere Seite? Wissen Kinder um die eigenen Rechte?

Winter: Nein. Die meisten wissen ja nur, was ihnen ihre Eltern oder die Schule sagen. Und da wird nicht oft über diese Rechte gesprochen. Hier wäre es Auftrag des Staates, darüber mit den Kindern in der Schule zu diskutieren. Was die Eltern betrifft, sind Informationen an Elternabenden wichtig. Das Problem ist, das gewalttätige Eltern da üblicherweise nicht kommen. Hier müssen dann die Sozialarbeiter eingreifen.

STANDARD: Wie erklären Sie einem Kind die Kinderrechte in zwei Sätzen?

Winter: Das ist in der Kürze kaum möglich. Ich würde sagen: Ein Kind ist ein Mensch genauso wie ein Erwachsener, hat also auch dieselben Rechte wie ein Erwachsener: auf ein Leben ohne Gewalt; darauf, seine Meinung sagen zu dürfen, nicht ausgestoßen zu werden und etwas zu lernen, das ihm weiterhilft. Ein Kind muss auch jemanden haben, dem es sagen kann, wo es Probleme hat - ohne sich fürchten zu müssen.

STANDARD: Österreich ist für Sie beim Thema Kinderrechte schon lange kein Musterschüler mehr. Warum?

Winter: Es wurde vor allem im Justizbereich an der falschen Stelle gespart. Die Untersuchungshaft ist viel zu oft verhängt worden, außerdem hat es dort zu wenige Impulse dann gegeben, weil für Jugendliche speziell ausgebildetes Personal fehlt. Ein anderer Punkt ist die Kindermigration. Da muss noch viel getan werden, wie auch im Bereich Langzeittherapie für Kinder, wo es genügend verfügbare Therapieplätze braucht.

STANDARD: Ein großes Problem ist der Kinderhandel. Was muss Österreich tun, um die Konvention in diesem Bereich besser umzusetzen?

Winter: Gäbe es keine Kunden für gehandelte Kinder - Stichworte Prostitution, Porno oder auch unterbezahlte Arbeit -, dann gäbe es auch keinen Handel. Daher ist es nicht nur wichtig, aufzuklären. Es gilt auch, entschieden gegen die Kunden vorzugehen, denn ihnen ist das Schicksal von Kindern herzlich gleichgültig. Hier braucht es intensive Zusammenarbeit mit der Kriminalpolizei von "Sendestaaten", auch administrative Probleme müssen abgebaut werden.

STANDARD: Sie haben den UN-Sondergerichtshof in Sierra Leone geleitet. In solchen Ländern bewegen doch Kinderrechte wenig, oder?

Winter: Dort, wo es ständig zu Katastrophen kommt, wo es Krieg und Elend gibt, sind Kinder eher Objekte als Subjekte. Sie "gehören" der Familie, die das Überleben sichern muss. Das Kind muss dazu beitragen. Trotzdem ist gerade in Krisenländern die Beachtung und Durchsetzung von Kinderrechten besonders wichtig, weil Kinder in diesen Situationen immer die größten Leidtragenden sind und die Situation nicht für sich selbst erleichtern können.

STANDARD: Gibt es Probleme, die weltweit gleich sind?

Winter: Ja, das ist Gewalt gegen Kinder, die auf verschiedenste Art ausgeübt wird.

STANDARD: In Österreich gilt seit 25 Jahren das Gewaltverbot in der Erziehung. Die "g'sunde Watsch'n" setzt es noch heute. Wieso bekommt man das nicht weg?

Winter: einerseits, weil es in Österreich noch immer patriarchale Strukturen gibt. Andererseits: Schlagen geht schneller als reden, erklären und diskutieren, vor allem dann, wenn alle Familienmitglieder dauergestresst sind.

STANDARD: Was kann der Staat dagegen unternehmen?

Winter: Es braucht Aufklärungskampagnen über die traumatisierende Wirkung von Schlägen sowie zur Erziehung zum Duckmäusertum und zu fortgesetzter Gewalt.

STANDARD: Und jeder, jede Einzelne?

Winter: Normalerweise schaut der Bürger weg, wenn ein Kind eine Ohrfeige bekommt. Vor Gericht habe ich oft zu hören bekommen "Ich hab mir nichts dabei gedacht, Kinder schreien bald einmal" oder "Was geht mich das an". Man kann versuchen, die Situation durch Reden zu deeskalieren. Wenn das nichts hilft: die Polizei verständigen! Oft passiert eine Ohrfeige aber auch in einer Stresssituation. Da kann man vielleicht beraten, was man stattdessen tun kann, oder Hilfsangebote aufzeigen.

STANDARD: Tritt Gewalt gegen Kinder seit dem Verbot verstärkt in anderen Erscheinungsformen auf? Etwa psychische Gewalt?

Winter: Ich glaube nicht. Man erfährt nur heute mehr darüber. Eines ist klar: Es gibt immer Leute, die sagen, dass ihnen Schläge nicht geschadet haben. Was sollen sie sonst sagen, um nicht Scham und Erniedrigung zugeben zu müssen?

STANDARD: Renn die Regierung 2016 also zum Dialog über ein Gewaltverbot einlädt, tut sie das nicht aus einer Vorreiterrolle heraus?

Winter: Doch. In Österreich ist wenigstens das Gewaltverbot gesetzlich verankert. In vielen Ländern ist dies ja nicht der Fall.

STANDARD: Ist Cybermobbing ein großes Thema in Österreich? Was ist in diesem Bereich zu tun?

Winter: Ja, dieses Thema wird immer größer. Auch hier geht es um Aufklärung über die Folgen, um Erziehung zur Toleranz und um Hilfestellung durch Eltern und Schule.

STANDARD: Im Jahr 2011 hat Österreich sechs von rund 50 Punkten der Konvention in Verfassungsrang gestellt. Ist damit auch eine Aussage über deren Stellenwert verbunden?

Winter: Es wäre einfacher gewesen, die gesamte Konvention in Verfassungsrang zu heben. Aber dafür müssen sehr viele Gesetze und Bestimmungen geändert werden - vielleicht ist es daher leichter, die Konvention nach und nach umzusetzen. Aber es gehört dringend nachgebessert.

STANDARD: Welche Konsequenzen hat es, wenn die Konvention nicht ausreichend umgesetzt wird?

Winter: Die Kommission hat keine Exekutivgewalt, aber ihr Ansehen ist groß. Kein Land will außenpolitisch schlecht dastehen, auch Österreich nicht. (Peter Mayr, Karin Riss, DER STANDARD, 20.11.2014)