Artefakte aus der Qijia-Kultur, die sich vor 4.000 Jahren am Oberlauf des Gelben Flusses etabliert hatte. Dies ist eine von 53 Fundstätten, die für eine aktuelle Studie untersucht wurden.

Lanzhou/Wien - Die Frage, ob der Mensch durch die vielen ihm zur Verfügung stehenden Kulturtechniken die Evolution ausgetrickst habe, wird in der Wissenschaft nach wie vor rege diskutiert. Ein beliebtes Beispiel dafür, dass unsere biologische Weiterentwicklung trotz Zivilisation keineswegs zum Erliegen gekommen sein muss, sind die Bewohner des Hochlands von Tibet.

Eine Reihe körperlicher Anpassungen erleichtert den Menschen auf dem "Dach der Welt", wo die Sauerstoffaufnahme in der Lunge verringert ist, das Leben. Allen voran eine Variante des Gens EPAS1, die problemlose Atmung in Höhen von 4.000 bis 5.000 Metern ermöglicht. Erst heuer wurde in "Nature" eine Studie veröffentlicht, der zufolge der Homo sapiens diese Variante durch Genfluss von einer anderen Menschenspezies erworben haben könnte: dem Denisova-Menschen, der vor etwa 40.000 Jahren im zentralasiatischen Altaigebirge lebte.

Diese Genvariante hat sich in den vergangenen 3.000 Jahren rasch innerhalb der Bevölkerung des Hochlands von Tibet ausgebreitet. Etwa im selben Zeitraum kam jedoch noch ein anderer Faktor ins Spiel, wie eine Studie zeigt, die in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Science" veröffentlicht wurde. Und bei diesem Faktor handelt es sich doch wieder um eine Kulturtechnik - nämlich die Landwirtschaft.

Menschliche Spuren in der Region reichen etwa 20.000 Jahre zurück. Allerdings handelt es sich bei den ältesten Funden - Steinwerkzeugen und Überresten von Herdstellen - um die Hinterlassenschaften von Jägern, die sich nur zeitweise im Hochland aufhielten. Eine dauerhafte Besiedelung rund ums Jahr erfolgte erst viel später.

Chinesische Forscher um Fahu Chen von der Universität Lanzhou untersuchten zusammen mit US-amerikanischen und britischen Kollegen Spuren aus jüngerer Zeit. Getreidereste aus insgesamt 53 archäologischen Fundstätten im Nordosten des Hochlands von Tibet wurden ausgewertet, was sich schließlich zum Bild einer mehrphasigen Besiedelung der Region zusammenfügte.

Wellen der Besiedelung

Vor etwa 5.200 Jahren arbeiteten sich Siedler am Lauf des Gelben Flusses entlang bis in die Ausläufer des Hochlands vor. Sie züchteten Rinder, Schweine und Schafe und bauten verschiedene Sorten von Hirse an. Über eine Höhe von 2.500 Metern kamen sie mit dieser Lebensweise jedoch nicht hinaus.

Der entscheidende Fortschritt gelang dann vor 3.600 Jahren durch einen Import aus dem Westen: Im "Fruchtbaren Halbmond" kultivierte Pflanzen wie Weizen und vor allem Gerste waren inzwischen auch nach Zentralasien gelangt. In tiefer gelegenen Regionen ergänzte Gerste den Speisezettel nur, im Hochland hingegen verdrängte sie die kälteempfindliche Hirse ganz. Und sie ermöglichte den Menschen, neue Höhen dauerhaft zu besiedeln: bis auf 3.400 Meter, in günstigen Lagen sogar noch deutlich mehr.

Erstaunlicherweise fiel diese Pionierzeit ausgerechnet in eine Phase, in der das Klima in der Region spürbar abkühlte - der Anbau von Gerste konnte also sogar diesen Nachteil wettmachen. Studien-Koautor Martin Jones von der Universität Cambridge sieht darin auch Relevanz für die Gegenwart: Das Potenzial pflanzlicher Vielfalt müsse besser ausgeschöpft werden. Sich bei der Ernährung der Weltbevölkerung ganz auf die "großen drei" - Reis, Weizen und Mais - zu konzentrieren könne nicht der Weisheit letzter Schluss sein. (Jürgen Doppler, DER STANDARD, 21.11.2014)