Raphael M. Bonelli, "Perfektionismus - Wenn das Soll zum Muss wird". € 20,50 / 335 Seiten. Pattloch-Verlag, München, 2014

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Gott behüte, wer ist ihnen noch nicht begegnet, den gnadenlosen Perfektionisten? "So geht das aber wirklich nicht, da müssen Sie noch mal ran, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, so eine unperfekte Arbeit abzuliefern?"

Herrisch und hochfahrend staucht der Herr Chef seinen eigentlich ein paar anerkennende Worte erwartenden und nun aus allen Wolken fallenden Untergebenen zusammen - um dann im Wegrauschen mit wehendem Sakko die Kaffeetasse vom Schreibtisch des mit versteinerten Gesichtszügen Dasitzenden zu fegen - selbstverständlich ohne ein Wort der Entschuldigung. Und das Ganze dazu noch im Beisein eines Besuchers.

Aber so sind sie, unsere lieben Perfektionisten. Hohe Ansprüche an andere bei abgeschalteter Selbstbetrachtung. Vorwürfe, an einer Messlatte ausgerichtet, die sie für den Eigenbedarf nicht zur Hand haben. Meine Mutter pflegte solche Kotzbrockenauftritte mit den Worten zu kommentieren: "Was Gott tut, das ist wohlgetan!". Die Mitglieder dieser Kaste sind manchmal die wahre Pest im Alltag. Und das Schönste dabei ist: Das Ziel, das sie ansteuern, das Perfekte, das lassen sie mit ihren unleidlichen Verhaltensweisen in Luft aufgehen - sofern es denn in unserer Menschenwelt überhaupt "das Perfekte" gibt.

Das Leben schwerer machen

Doch halt, das ist nicht die ganze Wahrheit. Perfektionismus, das zeigt Bonellis Buch in zahlreichen Fallbeispielen, hat unerkannt bei vielem Alltäglichen seine Hand im Spiel. Und das in geradezu unendlich variablen Facetten. Und beileibe nicht wenige davon legen etwas offen, was bei der Lektüre doch recht augenöffnend wirkt, ja manchmal sogar beinahe schmerzlich berührt: den auf sich selbst gewendeten Perfektionismus. So elend Perfektionisten ihre Umwelt drangsalieren können und es auch tun, so schauerlich können sie aber auch sich selbst das Leben schwermachen, ja geradezu vergällen und auch noch das letzte Quäntchen Lebensfreude aus ihrem erstarrten Dasein verbannen.

Zerfressen von den - für den etwas nonchalanter durchs Leben gehenden Betrachter - häufig nachgerade idiotischen Ansprüchen an sich selbst mit den dazugehörigen Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln, verrennen sie sich zunehmend selbstgelähmt-ausweglos in einer Vorstellungswelt, aus der sie ohne fremde Hilfe nicht mehr herausfinden.

Raus aus der Perfektionismusfalle

Unter anderem am Fall einer selbsternannten Karrierefrau legt Bonelli in mehreren, sorgfältig erläuterten Schritten offen, wie schwer es ist, sich selbst einzugestehen, in der Perfektionismusfalle zu sitzen, und wie mühsam es ist, den Weg heraus aus dem Perfektionismuswahn zu finden: wie viele innere Widerstände dabei zu überwinden sind, welche Brüche selbstgesetzter Tabus dabei zu vollziehen sind - und wie unendlich befreiend es ist, sich schlussendlich den Weg in die geistig-seelische Freiheit freigekämpft zu haben. In dieser von äußerer Ungewissheit geprägten Zeit und der sich darob schnell einschleichenden inneren Unsicherheit ist gerade diese geistig-seelische Freiheit und die erst durch sie ermöglichte Erkenntnis, dass es das Absolute, das ausschließlich Richtige und Wahre nicht gibt, der einzig zuverlässige Schutz davor, nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und an der unvollkommenen Welt irre zu werden.

Wer beherzt und tatkräftig leben will, muss, so Bonellis Botschaft, dem Perfektionismus abschwören und sich der Gewissenhaftigkeit zuwenden, darf sich nicht vom idealisierten "Soll" in den Bann schlagen und in die Zwangsjacke des die Offenheit für Lernen und Erfahrungen verdrängenden "Muss" stecken lassen.

Bonelli: "Der Perfektionist leidet darunter, ein unerreichbares Ziel nicht zu erreichen. Er kann das SOLL nicht gelassen als Orientierungspunkt wertschätzen, sondern empfindet es als MUSS."

Perfektionismus bremst

Bei der enormen Veränderungsgeschwindigkeit unserer Zeit ist der Anspruch, perfekt zu sein, die sicherste Gewähr dafür, eher früher als später erst immer bedenklicher hinter der Entwicklung herzuhinken und dann schließlich ganz den Anschluss zu verlieren. Das Perfekte ist, mit anderen Worten - vielleicht mit der Ausnahme einiger erhaben über der Zeit stehender Werke aus der Hand großer Künstler - allein aus der Tatsache eines ständigen Werdens und Vergehens heraus zum Scheitern verurteilt. Und die Kunst des Lebens ist, sich auf dieses "panta rhei", dieses anhaltende Fließen, um es mit einem Heraklit zugeschriebenen Wort zu sagen, einzustellen. Und: einzulassen!

Wer wissenschaftliche Erkenntnisse über die Zeit hin verfolgt, dem wird die Bedeutung dieses ständigen Fließens, dieses anhaltenden Veränderungsprozesses immer wieder vor Augen geführt: die auf hohem Podest stehenden Erkenntnisse von heute sind in vielen, ganz vielen Fällen die Irrtümer von morgen.

Offen und nichtperfekt sein

Das ist die Quintessenz dessen, was wir Fortschritt nennen. Das gilt es zu bedenken, und allein deshalb schon ist die nach außen offene gewissenhafte Arbeit dem in sich abgekapselten Streben nach Perfektion vorzuziehen.

Gewissenhaftigkeit, erläutert Bonelli, "beschreibt den Grad an Selbstkontrolle, Genauigkeit und Zielstrebigkeit, die einer Person eigen ist. Gewissenhafte Menschen planen gut, handeln effektiv, organisiert, sorgfältig, verantwortlich, zuverlässig und überlegt." Gewissenhaftigkeit, präzisiert Bonelli, "ist also ein Ausdruck von Lebenstüchtigkeit und führt zu größerem Handlungsspielraum. Perfektionismus dagegen schießt sich ins eigene Knie, verengt den Handlungsspielraum und reduziert die persönliche Freiheit." (Hartmut Volk, DER STANDARD, 22./23.11.2014)