Regel Nummer drei: "Ich darf nicht um Hilfe bitten, sie aber annehmen, wenn sie angeboten wird": Kunststudentin Emma Sulkowicz in ihrem Studio.

Foto: Julia Herrnböck
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Eine junge Frau als Dorfmatratze zu bezeichnen ist vulgär. Wer das tut, will Verachtung erzeugen, will sagen, dass jeder Mann sie "benutzen" darf. Dass sie eine Schlampe sei. Emma Sulkowicz strahlt, als ich ihr von dem Schimpfwort erzähle.

Um diese doppelte Bedeutung habe sie nicht gewusst, als sie die Matratze zum Symbol ihrer Performance gemacht hat. Sie verkörpert das Gewicht, das auf Vergewaltigungsopfern lastet, denen nicht geglaubt wird.

Und jetzt auch noch das: Emma, die Dorfmatratze. "Das ist so toll! Meine Performance wird immer besser", freut sich die 21-Jährige.

Der Matratzenprotest der Kunststudentin hat möglicherweise die mächtigste Frauenrechtsbewegung der USA seit den 1960er-Jahren ausgelöst, als Künstlerinnen verstärkt ihren Körper als Material einsetzten.

90 mal 200, dunkelblau

90 mal 200 Zentimeter ist die Matratze groß, der gummiartige Überzug ist dunkelblau und schützt gegen die in New York gegenwärtigen Bettwanzen. Alle Zimmer im Wohnheim für Burschen am Campus der Columbia University sind mit diesem Modell ausgestattet, Marke Tall Paul's Tall Mall.

Auf genau so einer sei es passiert, erzählt Emma, damals, im April 2013. Paul, ein Studienkollege, mit dem sie schon zweimal geschlafen hatte und mit dem sie nach einem Fest auf sein Zimmer ging. Paul, der ihr Nein nicht hören wollte, der ihre Beine nach oben drückte, sie würgte. Paul, der anal in sie eindrang.

So wird sie es später einem Uni-Gremium der Columbia schildern. Zwei weitere Studentinnen wollen Ähnliches mit Paul erlebt haben. Als Emma die Details dieser Nacht dem Ausschuss erzählt, verbeißt sich ein Professor in die Frage, wie denn Analsex ohne Gleitgel überhaupt möglich sei.

Außerdem, so wird es später im Protokoll stehen, sei Emma beschwipst gewesen. "Ich hatte ein Glas Gin Tonic", sagt sie, "ich war nicht betrunken."

Paul oder sie

Paul bestreitet die Vorwürfe und wird freigesprochen. Einen Einspruch lehnt der Dekan ab. Bei der Polizei sei sie nicht ernst genommen worden, sagt Emma. Sie, die beiden anderen Mädchen und Paul – alle vier bleiben an der Columbia. Sich auf dem Campus zu begegnen ist unvermeidlich.

Emma hat ein einziges Ziel: dass Paul die Uni verlässt.

Seit Semesterbeginn schleppt sie auf all ihren Wegen auf dem Unigelände die unhandliche Matratze hinter sich her: Treppen rauf, Treppen runter, in den Hörsaal, die Mensa, die Bibliothek, in die Schlafräume und ihr Atelier. Nur wenn sie die Columbia verlässt, bleibt die Matratze in ihrem Zimmer.

"Carry That Weight", "Trag dieses Gewicht", heißt ihre Performance, Befreiungsschlag und Abschlussarbeit zugleich. Emma will das so lange durchziehen, bis entweder Paul oder sie der Columbia verwiesen werden oder freiwillig gehen. Ansonsten wird sie die Matratze bis Mai 2015 tragen, wenn sie ihren Abschluss macht.

Prüderie und feministische Dogmen

Von der "Elle" bis zur "New York Times" und zum "Spiegel" berichteten internationale Medien über das "Mattress girl" von Manhattan. Plötzlich ist sexuelle Gewalt und der Umgang in den USA mit Vergewaltigungsopfern, Prüderie und Aufreißkultur in den Feuilletons angelangt.

In der Debatte geht es aber auch um feministische Dogmen und Vorverurteilungen: Einige junge Männer, die der Vergewaltigung beschuldigt werden, erwägen selbst Klagen gegen Universitäten.

Auf den ersten Blick wirkt alles wie der wütende Ausdruck einer jungen Frau, die damit eher zufällig einen Nerv getroffen hat.

Doch "Carry That Weight" ist kein schicksalhaftes Zusammentreffen einer guten Geschichte mit der Eigendynamik sozialer Medien: Emmas Protest ist ein durchdachtes Konzept in der Tradition feministischer Aktionskunst.

Nicht zu übersehen

Valie Export etwa, die mit einer Maschinenpistole bewaffnet und mit einer Hose, die ihre Scham freiließ, ein Pornokino stürmte und die Männer aufforderte, es doch mal "mit einer richtigen Frau" zu tun, oder die ihre Brüste in einem Tastkino anbot.

Marina Abramovic, die sich auch heute noch mit Haut und Haar den Museumsbesuchern ausliefert und damit schon einmal beinahe mit dem Leben bezahlte.

Feministische Performance ist aggressiv, politisch, provokant. Der Anblick von Schmerzen und körperlichen Grenzen sind Teil des Protests, den die Umstehenden aushalten müssen.

Mit Coco Fusco, einer New Yorker Performance Künstlerin, steht Emma in Kontakt. "Sie bestärkt mich durchzuhalten."

Neben dem realen Gewicht – es sind knapp 23 Kilogramm, die Emma seit drei Monaten mit ihrem Körper bewältigen muss – ist eine Frau mit einer Matratze auf dem Rücken einfach nicht zu übersehen.

Die Verantwortlichen der Columbia, Paul, einfach jeder, der bei Missbrauch wegsieht und schweigt, soll bei ihrem Anblick an die Bürde des Opfers erinnert werden. Emma darf nicht um Hilfe bitten, aber Hilfe annehmen, wenn sie ihr offeriert wird. Das ist eine von 13 strikten Regeln, die in großen schwarzen Lettern an die drei Wände ihres kleinen Studios gepinselt sind.

Emmas geplanter Kreuzweg

Wer einmal gesehen hat, wie Emma ächzend die Matratze von einem Stockwerk in das nächste zerrt, will ihr helfen – und genau diesen Impuls will sie auslösen. Jede Woche kommen Unterstützer zu den kollektiven "Carry That Weight"-Treffen.

Die "New York Times" verglich das Bild mit dem Kreuzweg Jesu, dem spontan Menschen am Rande zu Hilfe eilten, die es nicht ertragen konnten, ihn unter der Last zusammenbrechen zu sehen.

Emma hat mit der Kultur des anonymen Opfers gebrochen und richtet den Fingerzeig gleichzeitig auf den mutmaßlichen Täter und die Entscheidungsträger der Elite-Uni, der sie 62.500 US-Dollar im Jahr bezahlt.

Sie hat das Konzept über die Sommermonate sorgfältig mit ihrem Professor Jon Kessler geplant. Doch Emma ist weder in Aktivistenkreisen unterwegs, noch war sie politisch aktiv – hinter dem Erfolg stecken zwei junge Aktivistinnen aus Los Angeles, Annie Clark und Andrea Pino.

Beide geben an, von Studienkollegen vergewaltigt worden zu sein und beide machten ihre Geschichten mit Namen und Gesichtern öffentlich. Sie gründeten die "No Red Tape"-Gruppe, die den laxen Umgang der amerikanischen Universitäten mit Tätern anprangert. Sie coachen Opfer und bringen Einzelfälle an die Medien.

Mittlerweile hat das US-amerikanische Bildungsministerium Ermittlungen gegen 78 Universitäten eingeleitet, darunter auch Harvard und Princeton. Die Bewegung hat sich der "Carry That Weight"-Performance angeschlossen und damit den Bogen von der West- zur Ostküste gespannt.

Nationale Bewegung

"Emmas Anblick sollte uns alle verfolgen", sagte Hillary Clinton bei einer Ansprache. Präsident Barack Obama hat das Thema aufgegriffen. Der Senat diskutiert im kommenden Jahr Strafen in Millionenhöhe für Universitäten, die ihre Studierenden nicht vor Übergriffen schützen und Täter nicht verfolgen.

"No justice, no peace", skandieren die Mitstreiter am nationalen Protesttag Ende Oktober am Campus der Columbia. Mehr als 6000 Studierende im ganzen Land machen mit, einige mit rotem Klebeband über dem Mund. Auch viele Männer sind gekommen.

Es geht nicht mehr um Emma, sondern um die Unis als Mikrokosmos einer Gesellschaft, in der über sexuelle Gewalt nicht gerne gesprochen wird. Emma sagt, sie sei zwar müde und erschöpft, doch werde nicht aufhören, die Matratze mit sich mitzuführen. "Ob es mich schon nervt, ist nicht der Punkt. Auch wenn ich es manchmal hasse, es geht darum, es zu Ende zu bringen", sagt sie. (Julia Herrnböck aus New York, 22./23.11.2014)