Wien - 60.000 Besucher stürmten heuer an nur fünf Tagen die Paris Photo im Grand Palais. Das letzten Sonntag zu Ende gegangene Branchentreffen ist das international prestigeträchtigste seiner Art. "Wenn man morgens als Aussteller kommt, steht bereits eine Schlange bis um die nächste Ecke", berichtet Galerist Johannes Faber, der dem Medium Fotografie inzwischen ein breites Grundinteresse attestiert.

Ausstellungen fotohistorischer Positionen, wie er sie in seiner Wiener Galerie macht, finden allerdings weniger Zuspruch; die Namen - etwa der aktuell präsentierte Fotojournalist Hannes Kilian (1909-1999) - sind wenig geläufig. Daran können selbst Einrichtungen wie der biennal stattfindende Monat der Fotografie nichts ändern. Seines Wissens ist Österreich das einzige Land in der westlichen Welt, in dem es kein fotohistorisches Studium gibt.

Foto: Hannes Kilian, Galerie Johannes Faber

Generell findet Faber aber "alles positiv, was der Fotografie hilft." Und dazu zählt für ihn freilich auch der europäische Monat der Fotografie, der ebenso wie die wichtigste Fotomesse in Paris wurzelt. eyes on heißt die Wiener Ausgabe des Festivals, das heuer seinen zehnten Geburtstag feiert. Kein Branchen-, sondern eher ein Publikumsfestival, mit breitem, demokratischem Zugang. Neben dem Ursprungsort Paris finden Monate der Fotografie in Berlin, Bratislava, Budapest, Luxemburg, Lubljana und - ganz neu - in Athen statt. Dort ist man jedoch noch in der Phase der Einreichungen.

Wien sei - im Gegensatz etwa zu Berlin - "kein Spielplatz für Kuratoren", so eyes on-Organisator Thomas Licek, der gemeisam mit Berthold Ecker, Kunstreferent der Stadt Wien, das Festival initiierte. Das "niederschwellige Angebot" für Künstler und Künstlerinnen wie Publikum ist ihnen enorm wichtig. Manchmal zählen die kleinen Ausstellungen, die Künstler in ihren Ateliers machen, oder die kurzen, nur drei Tage dauernden Projekte sogar zu den spannendsten, so Licek. Die Ausstellungen zum Ausgleich der Veranstaltervielfalt stärker unter ein Motto und ein Thema zu stellen ist für Ecker auch keine Option: Anderswo seien diese so weit gefasst, dass es schon wieder beliebig sei.

Ganz ohne Jury kommt man aber auch in Wien nicht aus: 175 Ausstellungen, passend zu 175 Jahren Fotografie, wurden für den offiziellen Katalog aus mehr als 300 Einreichungen ausgesucht. Das Label eyes on ist aber derart beliebt, dass es zahlreiche Trittbrettfahrer gibt. "Man kann niemandem verbieten, beim Fleischhauer in Ottakring eine Fotoausstellung zu machen", begegnet Johannes Faber der Frage, ob die Masse nicht die Qualität der Spezialisten überdecke, sehr lässig.

Zum Start des Festivals 2004 waren es 80 statt 175 Ausstellungen, das Budget der Stadt war mit 57.000 Euro (weitere 70.000 kamen von der EU) noch kleiner als heuer, wo mit insgesamt 196.000 Euro dotiert wird. Und auch die Besucherzahlen stiegen - aufgrund der kleinen Off-Räume freilich nicht proportional - von 200.000 auf rund 385.000 (2012).

Ziehen an einem Strang

Auch andere Fotospezialisten, bewerten die Niederschwelligkeit von eyes on positiv. Walter Moser, Leiter der Fotosammlung der Albertina, sieht einen Multiplikator, den insbesondere jüngere Kunstschaffende und Off-Spaces für sich nutzen können. Leider könnten die großen Häuser bei der Programmierung darauf nicht immer Rücksicht nehmen. Schön wäre es schon gewesen, die große Ausstellung Blow-Up zur Rolle der Fotografie im Medium Film von April jetzt im November zu platzieren. Umso erfreulicher für die junge Künstlerin Birgit Graschopf, die die Albertinawände mit Direktbelichtungen bespielt; die Vorlagen für ihre in der Produktion (nachts wenn das Museum geschlossen ist) aufwändigen, aber reizvollen Intervention stammen aus der Fotosammlung des Hauses.

Die Galerien schätzen den Monat ebenfalls und nutzen die Möglichkeit, "neue Publikumsschichten anzusprechen" (Ursula Krinzinger). Eine Chance für zusätzliches Marketing und Bewerbung, die man nützt, so Natascha Burger (Galerie Winter). Das Format bringe tatsächlich mehr und andere Besucher: "Viele Leute klappern die im Heft gelisteten Institutionen nach und nach ab." Und manche würden sogar fragen: "Was zeigt ihr beim nächsten Monat der Fotografie?" Als ein Ziehen an einem Strang ohne Konkurrenzdenken bewertet es Sophie Haslinger, Kuratorin bei Ostlicht; Kollegin Rebecca Reuter bei Westlicht ist nach anfänglicher Skepsis nun überzeugt: Das Festival hat im Vergleich zu früher mehr Hand und Fuß.

Bei der ebenfalls im November in Wien stattfindenden Vienna Art Week ist der Aspekt des Wahrgenommenwerdens und die Möglichkeit, zusätzliche Marketinginstrumente auszuschöpfen, für viele Teilnehmer auch ausschlaggebend. Wenn man als kleine Initiative - oder gar als Einzelkünstler - in deren Programmheft aufscheint, dann ist das fast wie eine Vergewisserung der eigenen Existenz und des künstlerischen Tuns: "Das liest sogar meine Mutter", hieß es etwa bei der Pressekonferenz. Der eyes on-Katalog erfüllt diesbezüglich eine ähnliche Funktion.

"Jeder darf" oder Jury

Etwas aus dem Rahmen der "Jeder darf"-Spielart fällt allerdings die fünftägige photo::vienna im Mak (27. bis 30.11.): Die Einreichung für dieses messeartige Format kostet 36 Euro, die Teilnahme weitere 360, Produktionskosten ausgenommen. Den jungen Talenten aus Architektur- bis Werbefotografie sei es das wert, verteidigt Felix Leutner, Geschäftsführer eines Fotofachlabors, sein Konzept. "Sonst komme ich nie ins Mak", hätten einige die Investition gerechtfertigt. Es ginge um fotografische Positionen, die es vielleicht nicht in eine institutionelle Ausstellung schaffen, aber trotzdem sehenswert wären. Aus (trotz Open Call nur) 200 Einreichungen wurden letztlich 75 ausgewählt: Eine Auswahl, über welche die elfköpfige Jury einig sein musste. Es wurde heftig diskutiert, so Leutner. Manchmal stand selbst die Drohung im Raum: "Wenn diese Position ausgestellt wird, steh ich auf und geh!"

So ein Maßstab wird bei eyes on nicht angelegt - und kann auch nicht angelegt werden - beurteilt werden ja vorab nur die eingereichten Konzepte, nicht ihre Umsetzung. Das ließe sich auch nicht machen, heißt es auf Organisatorenseite. - Wie hilflos soll sich da erst das Publikum fühlen? Was die fixen, ganzjährigen Anlaufpunkte für Fotografie in Wien sind, müssen ortsfremde Besucher sich erfragen. In Sachen Orientierung ist also jeder auf sich allein gestellt.

Eine Hauptausstellung des Festivals gibt es mit Memory Lab im Musa zwar schon, ein wirkliches, lebendiges Festivalzentrum (etwa wie bei der Viennale) ersetzt das Museum - trotz einiger dort stattfindender Podiumsdiskussionen - allerdings nicht. eyes on-Initiator Berthold Ecker würde sich zwar wünschen, dass es ein fixes Haus für künstlerische, dokumentarische und wissenschaftliche Fotografie in Wien gibt, glaubt aber angesichts heutiger Budgets nicht mehr an "große Institutionsneugründungen". Im Grunde ist es jedoch Ecker selbst, der der Stadt mit dem Festival das beste Argument gegen ein Fotomuseum liefert: Es geht auch ohne. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 22./23.11.2014, Langfassung)

"Freimaurer Loge Dahlem, 22nd of April" ist diese Fotografie aus der Serie Berlin von Erwin Olaf überschrieben. Der Niederländer, der sich zwischen Kunst- und Modefotografie verortet, spielt mit den Ästhetizismen totalitärer Machtgefüge, was im Betrachter ebenso starke wie ablehnende Emotionen auslösen kann.
Foto: Erwin Olaf, Galerie Wagner + Partner, Berlin

Die Arbeit von Erwin Olaf ist Teil der Ausstellung Memory Lab. Photography Challenges History, die an allen Festivalorten (Paris, Berlin, Bratislava etc.) des europäischen Monats der Fotografie stattfindet. Die Kuratoren (in Wien Gunda Achleitner) haben sich auf einen Pool von 43 Künstlern geeinigt; die Ausstellung selbst variiert aber von Stadt zu Stadt. Die Schau fragt nach der Bedeutung der Fotografie in der Konstruktion von Geschichte und des kollektiven Gedächtnisses. In der Wiener Ausgabe (bis 21. 3. 2015) im Musa (Felderer Straße 6-8, 1010 Wien) stechen aus den 13 präsentierten Positionen die digitalen Collagen von Tanja Boukal und die Videotableaus von Juraj Starovecký heraus.

Boukal hat in Rewind: Obersalzberg (2008–09) das ehemalige Landhaus Adolf Hitlers am Obersalzberg besucht und historische Aufnahmen - inklusive Führer - mit aktuellen - inklusive Besucher - verquickt: es entstand eine Collage, die die Musealisierung solcher Orte kritisch in Frage zu stellen scheint. In Trespasser (2011) hat Starovecký im Selbstversuch, gut getarnt, die tschechisch-österreichischen Grenze nahe Slavonice passiert. Ein starkes, rührendes, aber auch komisches Enactment der Flucht, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs obsolet gewordenen ist. (kafe)