Alice Coote und Chen Reiss im "Rosenkavalier".

Foto: Michael Poehn

Wien – Ein Gedankenexperiment, obwohl vermutlich die Mehrheit des Publikums am Donnerstag Richard Strauss’ Rosenkavalier nicht zum ersten Mal gesehen hat: Wie wären frische Eindrücke gewesen? Die Frage zielt weniger auf das Optische – obwohl jemand, der ohne Vertrautheit mit der historisch gewachsenen Bandbreite an der Staatsoper die inventarisierte Otto-Schenk-Inszenierung von 1968 sehen würde und daneben eine neuere Produktion, sagen wir: überrascht sein könnte.

Bei der ersten Begegnung mit einem Werk wirkt zunächst dieses selbst, erst später die Interpretation. Doch ziemlich sicher hätte sich hier auch eine besondere Intensität vermittelt. Wenn man eine komplexe Partitur wie diese etwas näher kennt, tritt oft manches stärker hervor als gewohnt, anderes scheint zu fehlen. Das ist normal. Doch das Erstaunlichste am Rosenkavalier-Dirigat von Kirill Petrenko war, wie sehr er die gesamte Partitur neu zu durchleuchten schien.

In besonderer Weise galt das für die polyfonen Verzweigungen, die sich nicht nur reizvoll überlagerten, sondern bei denen jede Stimme ihre eigenen Energien entfalten durfte. Ergebnis war weniger die vielbeschworene orchestrale Transparenz als plastische Klarheit, verbunden mit einer Klangfarbenfantasie, einem Schwung, einer direkten, gleichwohl reflektierten Emotionalität, die Petrenko zu einem der derzeit bedeutendsten Dirigenten überhaupt machen. Wenn das Orchester ihm zu 100 statt 98 Prozent gefolgt wäre, hätte man dabei glatt auf die Bühne vergessen können.

Dort brachte Hausdebütantin Alice Coote einen überzeugend wandlungsfähigen, lyrisch feinen, mitunter gar zu abgedunkelten Octavian mit der Sophie von Chen Reiss zusammen, die sich als angeschlagen ansagen ließ, doch dabei schön und hell, vielleicht ein wenig kühl klang. Rollendebütant Benjamin Bruns bot als italienischer Sänger ebenmäßige Kraft oh ne Kraftmeierei; Clemens Unterreiner glänzte als markant-verzweifelter Faninal.

Berührend war jene Charakterstudie, die Soile Isokoski ihrer Marschallin angedeihen ließ; gewohnt polternd, sicher der Ochs von Peter Rose. Dass diese Figur entgegen den Intentionen von Strauss und Librettist Hofmannsthal stets derb outrieren muss, dafür konnte er nichts. Interessant wäre es allemal, sie auch in Wien einmal nicht als Lüstling, sondern als jene 35-jährige „Don-Juan-Schönheit“ vom Land zu sehen, als die sie erdacht wurde. (Daniel Ender, DER STANDARD, 22./23.11.2014)