Hugo Portisch erzählte kürzlich bei einer Buchpräsentation von seinem Besuch als damaliger Kurier-Chefredakteur bei Bundeskanzler Julius Raab im Jahre 1957. Der ÖVP-Obmann und "Staatsvertragskanzler" war damals am Höhepunkt seiner Karriere. Zum Neutralitätsarrangement mit den Großmächten kam Österreichs international enorm

gewürdigte Rolle nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes im November 1956. Sodass Raab möglicherweise glaubte, ihm könnte ein weiterer großer Wurf gelingen.

Portisch jedenfalls war überrascht, als Raab zu ihm sagte: "Und jetzt treten wir der EWG (der späteren EU, Anm.) bei." "Was werden die Russen dazu sagen", bemerkte Portisch, der Realist. "Die fragen wir gar nicht", entgegnete Raab.

"Njet" zu EWG-Beitritt

Wir wissen, wie lange es noch dauerte, bis Österreich der damaligen EG beitreten konnte. Eine der Ursachen dieser Verzögerung war, dass der Kreml - bald über Raabs Absicht informiert - einen EWG-Beitritt des neutralen Österreich für die Vorstufe eines NATO-Beitritts hielt. Daher ein striktes "Njet".

Genau diese Position vertritt auch Wladimir Putin zur Ukraine. Österreich war vor bald 60 Jahren für Moskau in derselben geopolitischen Position wie heute die Ukraine (minus Religion, minus Ethnien, minus historische Überlappungen). Im Kreml wollte und will man die Nato mit ihrer Beistandspflicht nicht direkt vor den eigenen Grenzen haben. Das hat Putin vor rund zehn Tagen ohne Bezug auf die 1950er-Jahre in einem ARD-Interview gesagt, das in der Diskussionssendung von Günter Jauch ausgestrahlt wurde.

Zur historischen Illustration ist hinzuzufügen, dass ins Jahr 1953 Stalins Tod fällt, dass sich nach monatelangem Machtkampf Chruschtschow im Kreml durchgesetzt und 1957 der "Notar" des Kalten Kriegs, Andrej Gromyko, seine Langzeitkarriere als Außenminister der UdSSR begonnen hatte. Umso erstaunlicher, dass sich Putin in dieses Muster stellt - und gleichzeitig die Wandlungen des Neutralitätsbegriffs wie auch die Tatsache ignoriert, dass aus der EU-Mitgliedschaft nicht zwingend ein Nato-Beitritt folgt.

Ukraine-Krise

Die Geschichte lebt - weil sie sich nie plagiatorisch wiederholt - von den spontanen Eruptionen und geplanten Revolutionen, anderseits von der Kontinuität gesellschaftlicher Institutionen und pragmatischer Staatskanzleien. Beides prägt die Tragödien und Ungewissheiten der Ukraine-Krise.

Der Westen (USA und EU) hat sich zu sehr mit den Explosionen am Maidan von Kiew identifiziert. Der Osten (Russland und vielleicht sogar China) klebt an seinen autoritären Traditionen. Brutale Machtpolitik ist dabei sowohl den einen wie den anderen nicht fremd.

Washington, Brüssel, Berlin und Paris ignorieren die Verstörung der Russen, weil sie trotz vertraglicher Abmachungen blitzschnell einer damals illegalen Regierung zur Macht verholfen haben. Und Moskau ignoriert die westliche Empörung über die Annexion der Krim als Anzeichen für weitere Landnahmen über die Ukraine hinaus.

Ein Verzicht der Ukraine auf einen Nato-Beitritt könnte ihr ein Tor in die EU ohne Widerstand Moskaus öffnen.