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Der Film "Quills" ("Macht der Besessenheit") schildert die letzten Lebensjahre des Marquis de Sade in der Psychiatrischen Klinik Charenton in Charenton-Saint-Maurice (heute Saint-Maurice, Val-de-Marne). Geoffrey Rush spielt die Hauptrolle des Marquis.

Foto: Reuters/David Appleby

STANDARD: Herr Reinhardt, bereits zu Beginn Ihrer De-Sade-Biografie werfen Sie viele Fragen auf und betonen, man könne Antworten finden "durch neue Fragen an alte Quellen". Welche neuen Fragen stellten sich für Sie?

Reinhardt: Die grundlegende Frage betrifft das Verhältnis von Leben und Werk: Wo beginnt bei de Sade die Fiktion? In welcher Beziehung steht der reale Marquis seiner Zeit zu den literarisch gebrochenen fiktionalen Entwürfen seiner Texte? Wann fängt er an, mit seinen autobiografischen Versatzstücken zu spielen und seine Weltsicht in Fiktion zu verkehren? Welche Konzepte entwickelt er literarisch weiter, von denen er sich in der Realität distanziert?

STANDARD: Der Sadismus ist bei seinem adeligen Schöpfer kein glänzendes Lack-und-Leder-Spiel, sondern eine eklige, gewaltsame und in seinen Texten sogar tödliche Angelegenheit ...

Reinhardt: De Sade sah sich als "Galilei der menschlichen Seele". Er experimentierte mit Menschen, um unausgeleuchtete, tabuisierte Bereiche ihrer Psyche zu erforschen. Das waren Sexualität, Gewalt, Macht und Religion. Dabei ging er als standesbewusster Aristokrat seiner Zeit mit großer Menschenverachtung vor, insbesondere gegenüber den unteren Schichten. Das darf man nicht beschönigen. Von den Superschurken, den Menschenzerfleischern seiner Romane distanzierte er sich allerdings. Mörder war er keiner. Vielmehr verstand er sich als Nichtchrist sogar christlicher als die Wortchristen.

STANDARD: De Sades Atheismus hat etwas Fanatisches. Warum musste er sich so unbedingt der Nichtexistenz Gottes vergewissern?

Reinhardt: De Sade nahm auf der französischen Verliererseite am Siebenjährigen Krieg teil und wurde aufgrund seiner Tapferkeit sogar ausgezeichnet. Er hatte blutige Schlachten mitgeschlagen und war über Leichenberge gestiegen. Dabei machte er eine Erfahrung, die er mit vielen Offizieren seiner Generation teilte: Man ruft Gott an, und es kommt kein Echo. De Sades Atheismus ist keine gleichgültige Absage, sondern eine tiefsitzende Kränkung, dass es diesen Gott nicht gibt. Darum fühlt er sich auch aufgerufen, gegen den Glauben an einen christlichen Gott zu missionieren.

STANDARD: Hatten de Sades Exzesse, bei denen er Hostien und andere christliche Symbole schändete, den Sinn, die Nichtexistenz Gottes zu beweisen?

Reinhardt: Die Orgien de Sades sind extrem blasphemisch. Er wiederholte in ihnen den negativen Gottesbeweis. Das hat man ihm auch nicht verziehen. Ausschweifungen praktizierten andere Adelige ebenfalls, und die verschwanden nicht elf Jahre hinter Gefängnismauern. Es war die Kombination aus Gotteslästerung, Gottesleugnung und den von kirchlicher und staatlicher Seite verbotenen sexuellen Praktiken, die das Anstößige seiner Orgien ausmachte.

STANDARD: Diente de Sades Reise nach Italien, um Antike und Christentum an ihren Wurzeln zu untersuchen, dem Zweck, die Nichtexistenz eines christlichen Gottes zu belegen?

Reinhardt: Er unternahm eine Bildungsreise eigener Art. Wie nach ihm Goethe und vor ihm Montesquieu und viele andere illustre Persönlichkeiten fuhr de Sade als aufgeklärter Homme de Lettres nach Italien. Aber er hatte einen anderen Blick auf die Kunstwerke. Er wollte den Zusammenhang von Gewalt und Religion aufzeigen und versuchte zu verstehen, wie inbrünstige Religiosität, Martyrium, Blutrausch und Sexuali- tät zusammenwirken. Dass das Christentum durch Blut begründet ist, entspricht der offiziellen Lehre der Kirche. Für de Sade aber ist Religion dadurch faszinierend, dass sie Abweichler tötet, sich durch blutige Rituale von anderen Religionen abgrenzt und eigene Blutopfer verherrlicht.

STANDARD: Ist ihm das Aufzeigen dieses Zusammenhangs von Religion und Gewalt auf wissenschaftlich anerkannte Weise gelungen?

Reinhardt: Nach den Wissenschaftsbegriffen des 18. Jahrhunderts kann man seine Ausführungen wissenschaftlich nennen. Er untersuchte zum Beispiel sehr stringent, wie heidnische Heiligtümer in christliche Kultstätten umgewandelt wurden, bestimmte Opferriten aber gleich blieben. Während die heidnischen Priester Tiere schlachteten und wahrscheinlich anfangs auch Menschen opferten, verspeisen Christen für ihn als Theophagen ihren Gott in Form von Brot und Wein. Aus heutiger Sicht analysierte de Sade die Zusammenhänge zwischen Blut, Gewalt und Sexualität nicht so wissenschaftlich wie Sigmund Freud. Aber seine Texte sind doch Vorläufer solcher Untersuchungen.

STANDARD: De Sade selbst präsentierte sich als Literat und Philosoph. War er das?

Reinhardt: Ja, und zwar schon vor seinem Gefängnisaufenthalt. Er schrieb Theaterstücke für die Privattheater in seinen beiden Schlössern. Auch die Romreise skizzierte er mit großem literarischen Anspruch, um damit alle bisherigen Berichte von Italienreisen zu übertrumpfen. Er schrieb pointenreich. Es stammen auch Satiren, Schwänke und komische Novellen aus seiner Feder.

STANDARD: Wie singulär steht de Sades Werk in der Literaturgeschichte?

Reinhardt: Völlig. Die erotische Literatur besaß in Frankreich im 18. Jahrhundert eine große Tradition. Aber de Sades Werk hat wenig damit zu tun. Auch der Begriff Pornografie passt nicht. Bei de Sade sind das alles mechanisch durchorganisierte Massenvollzüge, die nichts Aufreizendes oder Verführerisches haben. Er selbst begriff seine Texte als Mischung von Wissenschaft und Belletristik, wobei er das Wissenschaftliche wahrscheinlich höher gewichtet hätte.

STANDARD: Der De-Sade-Herausgeber Gilbert Lely stellte de Sades Briefroman "Aline et Valcour" in eine Reihe mit "Decamerone", "Don Quijote" und "Gullivers Reisen". Können Sie dem zustimmen?

Reinhardt: Dieser Roman ist ein Stück schwarze Weltliteratur. Es handelt sich um einen philosophischen Roman, der Jean-Jacques Rousseaus Menschenbild widerlegen soll. De Sade wendet sich darin gegen die Idee, dass der Mensch gut geboren ist und nur durch die Gesellschaft und ihre Fehlentwicklung schlecht wird. Er will zeigen, dass das Böse in jedem Menschen schlummert. Sein Roman analysiert dieses Böse und feiert dessen Triumph. Er steht als finsteres Meisterwerk einzigartig da, weil er diesen Triumph ohne jedes Bedauern zeigt. In dieser Hinsicht hebt er sich ab von Werken wie Decamerone, Don Quijote oder Gulliver, die die Perspektive haben, den Menschen zu erziehen und zu verbessern.

STANDARD: Ende des 20. Jahrhunderts fand de Sade Eingang in die Bibliothèque de la Pléiade, was aus französischer Sicht die höchste Auszeichnung für einen Schriftsteller ist.

Reinhardt: De Sade ist angekommen unter den großen philosophischen Schriftstellern der europäischen Tradition. Er nimmt dort sicher einen Außenseiterplatz ein. Aber er gehört auf dieses Niveau. Vorangegangen ist eine lange Entwicklung. Im 19. Jahrhundert war de Sades Werk verboten und nur unter dem Ladentisch erhältlich. Selbst der berühmte Prozess gegen den Verleger Jean-Jacques Pauvert 1956 hatte das Verdikt nicht zurückgenommen. In den Jahren 1956 bis 1995 ereignete sich jedoch ein radikaler Wechsel. De Sade wurde durch bedeutende Literaturwissenschafter wie Roland Barthes als Literat entdeckt. Inzwischen gibt es in Frankreich, aber auch im deutschsprachigen Raum eine seriöse akademische De-Sade-Forschung.

STANDARD: Am Ende des Buches stellen Sie de Sade aus verschiedenen Perspektiven dar. Ganz zu fassen vermag ihn keiner. Bleibt er ein Rätsel?

Reinhardt: Jede Rezeption de Sades ist als Vereinnahmung auch eine Verengung. Man projiziert neue Ideen auf ihn, die in seiner Lebenszeit nicht im Schwange waren und deswegen nicht zu seinen ursprünglichen Vorstellungen gehörten. Er ist eine riesige Projektionsfläche geworden, die man auch für alle möglichen politischen Zwecke von links bis rechts benützen kann. Dahinter bleibt manches im Dunkeln.

STANDARD: De Sade wünschte, dass sein Grab mit Eicheln bedeckt werde, damit es zuwachse und verschwinde, "so wie ich mir schmeichle, aus dem Gedächtnis der Menschen getilgt zu werden". Die Wirklichkeit belegt das Gegenteil. Wie erklären Sie sich die enorme Wirkung von de Sade und seinem Werk?

Reinhardt: Durch die extreme Provokation. Die Literaten des 19. Jahrhunderts wollten über Grenzen gehen und Tabus brechen. Denken Sie etwa an die Schwarze Romantik eines Baudelaire, der auch das Thema Erotik, Tod und Gewalt wieder aufnahm. Diese vermeintliche Avantgarde entdeckte, dass sie einen Vorläufer hatte, der in mancher Hinsicht radikaler war als sie selbst. Das war ein Schockerlebnis und auch ein Erweckungserlebnis. Apollinaire entdeckte de Sade als Verkünder eines neuen Menschen. Die Surrealisten betrachteten ihn als Ahnherrn. De Sade ist ein Extrempunkt, über den man nicht hinausgehen kann. Als solcher weckt er eine immerwährende Faszination, gerade bei denen, die glauben, Neuland zu betreten. (Ruth René Reif, Album, DER STANDARD, 13./14.12.2014)