Paul und Louise scheinen wie gemacht füreinander. Er ein charmanter Hallodri, sie ein selbstbewusstes Mädl, beide aus einfachen Pariser Verhältnissen. Die beiden sind auf einer Augenhöhe, schenken sich nichts. Einer verheißungsvollen Zukunft steht nichts im Weg.

Doch – eh klar: Es kommt alles anders. Direkt nach der Trauung steigt Paul in den Zug, um schnell den Militärdienst hinter sich zu bringen. Kurz darauf bricht der Erste Weltkrieg aus und Paul muss an die Front. An dieser Stelle passiert der erste gravierende Einschnitt in Paul Grappes Leben – und auch der erste Bruch in der grandiosen Graphic Novel "Das falsche Geschlecht". Auf die leichtfüßigen, luftigen Zeichnungen der ersten Seiten folgt abrupt ein dunkles Kapitel. Der Hintergrund wechselt von Weiß zu Tiefschwarz. Das erste Bild zeigt Paul mit seinen Kameraden beim Kacken im Schützengraben. In Hochglanz.

Brutal bohrt die Französin Chloé Cruchaudet am Nerv des Kriegsgrauens, rührt mit ihren ausdrucksstarken Bildern in der Magengrube der LeserInnen und zeigt unmissverständlich, warum es keine gute Idee ist, sich gegenseitig niederzumetzeln. Das hat auch Paul sehr schnell geschnallt. Und ist bereit, sich selbst zu verstümmeln, um herauszukommen aus diesem Schlamassel.

Cruchaudet/Avant

Dem Krieg zu entkommen, erweist sich als schwieriger als gedacht – also flieht Paul und versteckt sich mit Louises Hilfe in einem abgetakelten Pariser Hotel. Dort suchen ihn die Kriegstraumata heim, er wird immer frustrierter. Dann passiert der zweite Schnitt, und der wird Paul zu einem anderen Menschen machen. Um unerkannt auf die Straße gehen zu können, zieht Paul Frauenkleider an. Hier beginnt ein Prozess der Verwandlung, der ihm über Jahrzehnte zu einer neuen Identität verhilft.

Die 1976 geborene Comic-Künstlerin Chloé Cruchaudet hat in "Das falsche Geschlecht" eine wahre Geschichte verarbeitet. Basierend auf dem Essay "La garçonne et l’assassin" der HistorikerInnen Fabrice Virgili und Danièle Voldman rekonstruiert sie das außergewöhnliche Leben des Ehepaars Grappe und versucht, die Entwicklung ihrer über Geschlechtergrenzen hinausgehenden Liebesgeschichte aufzuspüren.

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Schließlich ist es Louise, die Paul zu "Suzanne" macht: Sie epiliert ihren Ehemann, rupft ihm die Nasenhaare und macht ihm die Fingernägel, unterweist ihn in den Bewegungen und der Gestik einer Frau. Aus dem anfänglichen Spiel wird eine Passion. Suzanne überzeugt als kokette Mitbewohnerin von Louise und kann zum kargen Unterhalt beitragen, indem sie ebenfalls als Näherin arbeitet. Das Kriegsende bringt keine Begnadigung für Deserteure, und Paul bleibt in seiner Maskerade, in der er sich schon so gut eingerichtet hat.

Zu gut, wie Louise immer öfter meint. Paul blüht als Suzanne immer mehr auf zu einer verführerischen Femme Fatale und mischt mit ihrem speziellen Charisma die dekadente Gesellschaft der "Roaring Twenties" auf. Paul bzw. Suzanne kapselt sich immer weiter von Louise ab – lässt sich aber weiter von ihr aushalten und decken.

Von ihrer Transgender-Identität weiß nur eine illustre Gruppe, die des nächtens in einem Park der freien Liebe frönt und die Suzanne zu ihrer Königin kürt. Louise ist zwar überraschend offen für die Eskapaden ihres Mannes, doch seine Saufgelage, Gemeinheiten und gewalttätigen Übergriffe zerren immer mehr an dem Band, das die beiden zusammenhält.

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Als zehn Jahre nach Kriegsende die Deserteure amnestiert werden, zeigt sich erst, wie sehr Paul schon mit seiner weiblichen Seite verwachsen ist. Was bleibt, sind seine Kriegsneurosen und eine handfeste Ehekrise. Das ganze mündet in einem Mord. Der darauffolgende Gerichtsprozess bildet die Rahmenhandlung der Graphic Novel.

Als ein "Lichtwesen" beschreibt ein Zeuge - ein Fußknöchelfetischist - Suzanne vor Gericht, als "ganzheitliches und wundervolles Wesen", "gleichzeitig sanft und gewalttätig" – Eigenschaften, die in den 1920ern noch viel schwerer in gängigere Kategorien passten als heute. Sowohl erzählerisch als auch zeichnerisch ragt "Das falsche Geschlecht" heraus aus einer Reihe von Graphic Novels, die sich zuletzt historischen Kriegsdramen widmeten. Deren interessanteste Umsetzungen stammen auffallend oft von weiblichen Comiczeichnerinnen – so wie Ulli Lusts Literaturadaption "Flughunde" und Barbara Yelins "Irmina".

Foto: Cruchaudet/Avant

Chloé Cruchaudet wartet mit einer beeindruckenden stilistischen Bandbreite und einer äußerst stimmigen Komposition von Bild und Text auf: Die liebevoll charakterisierten Figuren tanzen aus den rahmenlosen Panels heraus, Perspektiven und Tempi wechseln sich dynamisch ab. Scharfe Konturen treffen auf weichgezeichnete Schattierungen und die immer wieder leicht ins Karikatureske schweifenden Zeichnungen reißen einen mit Schwung durch die Story mit. Im Schwarz-Weiß des Alltags stechen nur wenige Accessoires in Rottönen hervor: Rouge, Nagellack und feine Stoffe etwa.

Völlig zurecht wurde der Band mit einigen Auszeichnungen bedacht, unter anderem mit dem Publikumspreis auf dem Comicfestival im französischen Angoulême, dem wichtigsten in Europa. Als Ausgleich zu dem schweren Stoff arbeitet Cruchaudet jetzt erst einmal an einem Kinderbuch. (Karin Krichmayr, derStandard.at, 11.2.2015)

Olivier Roller

Chloé Cruchaudet
Das falsche Geschlecht

Avant-Verlag 2014
160 Seiten, Hardcover
24,95 Euro

Foto: Cruchaudet/Avant