Steuerreformen bieten die Möglichkeit die lahmende Konsumnachfrage zu steigern, indem sie vor allem die unteren und mittleren Nettoeinkommen anheben. Sie können den sozialen und politischen Zusammenhalt stärken, wenn sie der wachsenden Einkommensungleichheit Einhalt gebieten. Werden die Steuerreformkonzepte von SPÖ und ÖVP diesen Anliegen gerecht?

Berechnungen ergeben folgende Aufteilung des Entlastungsvolumens (ohne die 500 Millionen Euro des ÖVP-Vorschlags zum Familienpaket und den Sozialversicherungsbeiträgen, da sie noch nicht im Detail vorliegen):

  • Der ÖVP-Vorschlag ermöglicht einer Person in der oberen Einkommenshälfte im Durchschnitt eine dreimal höhere steuerliche Entlastung als einer Person in der unteren Einkommenshälfte. Beim SPÖ-Vorschlag ist die durchschnittliche Entlastung für eine Person in der oberen Einkommenshälfte viermal höher als für eine Person in der unteren Hälfte.
  • Beim SPÖ-Vorschlag wird die untere Einkommenshälfte insgesamt mit einer Milliarde Euro und die obere Hälfte mit fünf Milliarden entlastet. Beim ÖVP-Vorschlag beträgt der Nettoeinkommenszuwachs bei der unteren Einkommenshälfte 400 Millionen Euro und bei der oberen 3,2 Milliarden Euro.
  • Bei beiden Vorschlägen bekommt das bestverdienende Einkommensfünftel insgesamt genauso viel wie die anderen 80 Prozent. Der SPÖ-Entwurf für das oberste Einkommensfünftel sieht ein um fast eine Milliarde Euro höheres Entlastungsvolumen vor als der ÖVP-Vorschlag.
  • Bei beiden Konzepten ist die Gesamtentlastung für Männer doppelt so hoch wie jene für Frauen.

Es hängt natürlich auch von der Ausgestaltung der Gegenfinanzierung ab, wie sich die Einkommens- bzw. Vermögenspositionen der Menschen verändern werden. Geht es nach den Vorstellungen der SPÖ, würde die Reform zu einem Drittel durch Steuern der Allerreichsten (in etwa ein Prozent der Bevölkerung) finanziert werden. Solche Abgaben sind ein fairer Ausgleich für die enormen Vermögenszuwächse, die überwiegend durch Wertsteigerungen im aufgeblasenen Finanzsektor entstanden sind, und nur in wenigen Fällen durch die vielgepriesene "eigene Leistung".

Aber was passiert, wenn sich die ÖVP als Beschützerin der Allerreichsten weitgehend durchsetzt und höchstens ein sehr bescheidener finanzieller Beitrag der Allerreichsten das Verhandlungsergebnis sein wird? Es ist zu befürchten, dass in diesem Fall die Einkommensschwächeren in doppelter Weise die Zeche bezahlen werden. Sie werden nicht nur noch weiter hinter den oberen Nettoeinkommen hinterherhinken, sie werden es auch am stärksten spüren, wenn wegen leerer Kassen die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, die Investitionen in die Infrastruktur und Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft zurückgefahren werden.

Wesentliche Veränderungen in der Arbeitswelt werden ausgeblendet. Da sich die Einkommenssteuer auf das Jahreseinkommen bezieht, profitieren von den SPÖ- und ÖVP-Vorschlägen am meisten ganzjährig vollzeitbeschäftigte Personen. Diese Erwerbsform trifft aber für immer weniger Menschen zu. Derzeit ist es etwa die Hälfte der Beschäftigten. Mehr als eine Million Menschen sind nicht das ganze Jahr hindurch beschäftigt, vor allem wegen der stark angestiegenen Arbeitslosigkeit. Teilzeitbeschäftigung nimmt rasant zu, Vollzeitbeschäftigung geht zurück. Für niedrige Jahreseinkommen, zu denen auch viele Gehälter in den Niedriglohnsektoren und ein Großteil der Pensionen zählen, sehen die beiden Konzepte nur wenig steuerliche Entlastungen vor. Personen mit geringen Jahreseinkommen zählen nicht zu den sogenannten Leistungsträgern, den Hauptadressaten der Reform.

Wer sind die Leistungsträger?

Offensichtlich diejenigen, die mehr verdienen und deshalb mehr Steuern zahlen, wie etwa die ganzjährig Beschäftigten, die nicht das Pech gehabt haben arbeitslos geworden zu sein. Und die Krisenopfer sollen bei der Steuerreform außen vor stehen. Keine Leistungsträger sind ebenfalls die hunderttausenden wenig verdienenden teilzeitbeschäftigten Frauen. Sie leisten einen Großteil der Haus- und Betreuungsarbeit und ermöglichen so, dass ihre Männer als Leistungsträger eine doppelt so hohe steuerliche Entlastung erhalten.

Das Dogma der SPÖ- und ÖVP-Steuerkonzepte lautet: Personen, die höhere Steuern zahlen, verdienen es, stärker entlastet zu werden. Verdienen sie es wirklich? Trotz gestiegener Steuerlast ist der Anteil der Besserverdienenden am Gesamtnettoeinkommen deutlich gestiegen. Die Steuervorschläge würden die wachsende Kluft zwischen unteren und oberen Einkommen weiter steigern.

Ein faires und für die Öffentlichkeit gut begründbares Ziel könnte sein, das geplante Entlastungsvolumen möglichst gleichmäßig auf alle einkommenssteuerpflichtigen Personen aufzuteilen. Beträgt das vereinbarte Entlastungsvolumen z. B. fünf Milliarden Euro, so entfällt auf jede betroffene Person eine jährliche Entlastung von circa 800 Euro. Im Vergleich zu den ÖVP- und SPÖ-Vorschlägen würden circa drei Viertel der Personen eine höhere steuerliche Entlastung erhalten.

Für die Realisierung dieses Ziels ist es erforderlich, weniger großzügig bei der Senkung der Steuersätze zu sein. Davon profitieren die Besserverdienenden. Ein stärkerer Ausbau der Negativsteuer und gewisser Absetzbeträge und eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge für Niedrigverdienende würden gezielt den unteren Einkommen zugutekommen. Bei einer gleichmäßigeren Verteilung der Steuerbegünstigungen des 13. und 14. Gehalts unter den Lohnempfängern und Pensionisten könnte der Gestaltungsspielraum für eine faire Steuerreform erweitert werden. Derzeit bringt diese Steuerbegünstigung in der Höhe von sechs Milliarden Euro fast der Hälfte der Betroffenen null Vorteile und die sehr gut Verdienenden werden mit zehnmal höheren Beträgen entlastet als Personen mit Durchschnittseinkommen.

Fatale Konsequenzen

Die Steuerreform ist das größte Projekt dieser Regierung. Kommt keine faire Steuerreform zustande, so könnte das für die Regierungsparteien fatal ausgehen. SPÖ und ÖVP müssen der Gesamtbevölkerung und nicht nur den "Leistungsträgern" ein attraktives Angebot machen. (Hans Steiner, DER STANDARD, 20.12.2014)