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Leopold Kohr, die Aufnahme zeigt ihn kurz vor seinem Tod im Jahr 1994, schrieb in den USA ein unabhängiges Österreich herbei. Sein Vehikel: das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht".

Foto: Archiv Lehner, Corbis/Bettmann

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Dutzende Kitsch-Artikel verfasste der später berühmte Ökonom für US-Zeitungen, in denen er Lied und Land pries. Auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt musste als Erzählvorlage herhalten.

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Österreich als eigenständigen Staat gab es nicht mehr - und sollte es auch nicht mehr geben. Lange planten die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs, Österreich bei Deutschland zu belassen, wenn Hitler eines Tages besiegt sein sollte. Man dachte, es gäbe längst zu viele Deutschnationale und Nationalsozialisten in Österreich - und zu Wenige, die einem neuen österreichischen Staat treu sein würden. Dieser Befürchtung widersetzten sich einige geflüchtete Österreicher vehement, darunter auch der Salzburger Leopold Kohr. Der Hitler-Gegner wurde 1909 in Oberndorf im Flachgau geboren, wo das Weihnachtslied "Stille Nacht" im Jahr 1818 uraufgeführt wurde. Millionen Menschen weltweit sangen und singen es seitdem in christlich geprägten Kulturkreisen jedes Jahr. Der Text wurde in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt. Dennoch wissen außerhalb Österreichs nur wenige, aus welchem Land es kommt.

Weihnachtskitsch in Serie

Leopold Kohr verwandelte ab 1939 das auch in Nordamerika populäre Weihnachtslied zur publizistischen Waffe gegen jene, die die Republik Österreich im Frühling 1938 mit dem "Anschluss" an Nazi-Deutschland ausgelöscht hatten. Der Flüchtling Kohr arbeitete damals als Journalist und Kommentator für führende amerikanische Zeitungen wie die New York Times und Washington Post.

Kohr nutzte die Entstehungsgeschichte von "Stille Nacht", um den Amerikanern und Kanadiern alljährlich Österreichs eigenständige Kulturgeschichte zu präsentieren. Dutzende Zeitungsartikel schrieb er in jener Zeit.

Eine besonders liebevoll gestaltete Story verfasste er für das Magazin des amerikanischen Jugendrotkreuzes, das sie zu Weihnachten 1944 veröffentlichte. Die Illustratorin Lillian Neuner zeichnete für Kohr das idyllisch verschneite Oberndorf, dahinter ragten der Salzburger Mönchsberg und die Festung Hohensalzburg auf. Leuchtende Alpen und funkelnde Sterne rundeten den Weihnachtskitsch ab. Kohrs Text suggeriert, dass der Autor tief religiös sei. Wer den Salzburger gut kannte, muss spätestens jetzt schmunzeln.

Gezielter Druck auf Tränendrüsen

Denn im katholischen oder protestantischen Sinne tief gläubig war Kohr nicht. Dazu war der gelernte Jurist und Politikwissenschafter, der in den USA Nationalökonomie und Philosophie lehrte, zu sehr Freidenker. Dass der Salzburger mit seinen Theorien sogar als Vordenker anarchistischer Bewegungen gilt, kaschierte er in seiner Ode auf "Stille Nacht" gekonnt:

"Oberndorf is only a small village in Austria. But it is my village, and this is why I often like to think of it. In the distance rise the mighty chains of the Alps to their majestic height. And the melody will float out again from the village which created it to the world to which it belongs."

Die Menschen von Oberndorf in Österreich seien stolz, schrieb Kohr, dass ihre Heimat auserwählt worden sei, mit diesem Weihnachtslied die Menschheit zu beschenken. Ein einfaches Lied sei es, das die Herzen der Menschen berühre, schwärmte Kohr. Weder Beethoven noch Schubert wären dazu fähig gewesen. Es sei ein Lied, das nur in einem Dorf habe entstehen können, geschaffen aus tiefem Glauben und dem Trost, der in solchen Gegenden spürbar ist. "Silent Night", die wunderbare Hymne der Christenheit, entstand in Österreich: "Then, wherever I am, in Paris, in London, in New York, in Toronto or in Los Angeles, everybody sings Silent Night." Doch Leopold Kohr beließ es nicht nur dabei, die Emotionen seiner Leser zu schüren, er schlug auch eine Brücke zur hohen Politik. Zu Weihnachten 1941 stand Kohr im Washington-Garten des Weißen Hauses, inmitten einer großen Menschenmenge, die darauf wartete, US-Präsident Franklin D. Roosevelt Segenswünsche zu überbringen. Roosevelt hatte seinen britischen Verbündeten Winston Churchill zu Gast; die Staatschefs waren wegen Hitlers Siegen in großer Sorge und berieten, was zu tun war. Als die Dämmerung hereinbrach, betraten Roosevelt und Churchill die Terrasse und sangen mit den versammelten Menschen "Silent Night".

Leuchtende Kinderaugen

Drei Jahre danach verdichtete Kohr diesen Moment in einem sentimentalen Text für ein Magazin. Die Tränen seien ihm damals in den Augen gestanden, als die Menge "sein Lied" angestimmt habe. "But I thought, sometime, when freedom and peace reign over the world again, and Austria is independent anew, I will tell them at home about the President and the Prime Minister singing Silent Night."

Noch perfekter ließen sich Weihnachtskitsch, Gefühle, Politik und Krieg kaum verbinden. Bis Mitte der 1950er-Jahre produzierte Kohr viele Storys dieser Art in unterschiedlichen Längen. Nach Kriegsende nahm er sein politisches Kalkül etwas zurück und konzentrierte sich noch mehr auf die reine Gefühlsebene, das Leuchten der Kinderaugen und die Idylle des befreiten Österreich. Chefredakteure rissen ihm solche Artikel für Weihnachten jedes Jahr aus der Hand. Angesichts der Fülle an Material könnte man meinen, der Salzburger hätte mit "Silent Night" für amerikanische Medien ein eigenes Ressort erfunden.

Diese Möglichkeiten dankte Kohr seinem Förderer Egon Ranshofen-Wertheimer, einem gebürtigen Innviertler aus Braunau. Der war im Zweiten Weltkrieg ein Berater des Weißen Hauses, 1945 ein Mitbegründer der Vereinten Nationen und eine der zentralen Figuren des österreichischen Widerstandes gegen die Nazis. Ranshofen-Wertheimer wurde dennoch von der offiziellen Geschichtsschreibung Österreichs lange Zeit vergessen. Leopold Kohr hingegen sollte nach dem Zweiten Weltkrieg als Ökonom und Umweltaktivist Berühmtheit erlangen - nicht jedoch für seine Weihnachtsgeschichten. (Gerald Lehner, DER STANDARD, 20.12.2014)