Simon Keenlyside hält als Rigoletto Ausschau nach seiner Tochter. Seine Stimme kommt dem Briten kurz darauf ebenfalls abhanden.

Foto: WIENER STAATSOPER/MICHAEL PÖHN

Wien - Das große Richtfest beginnt bei einer Opernaufführung meist erst, nachdem der Schlussakkord verklungen ist. Bei der Rigoletto-Premiere an der Wiener Staatsoper wurde das öffentliche Standgericht bereits zum Ende des zweiten Aktes eröffnet: Laustarke Buhrufe erhoben sich von Balkon und Galerie, dem traditionellen Sitz der Scharfrichter im Paralleluniversum Oper. Eine noch lautstärkere Menge an Bravos rang diese nieder.

Was war geschehen? Simon Keenlyside, bis dahin fesselnder Interpret der Titelpartie, hatte sich gegen Mitte des Akts überraschend von der Bühne gestohlen. Myung-Whun Chung ließ das Orchester eisern weiterspielen, die Untertitelungsanlage zeigte geisterhaft Sätze an, die niemand mehr sang, und Erin Morley lauschte als Gilda einsam und von ihrem Bühnenvater verlassen den Klängen Verdis.

Keenlyside tauchte nach einigen Minuten wieder auf und versuchte zu singen, stahl sich noch einmal davon und kam ein letztes Mal für ein leises Comeback bis zum Aktschluss zurück.

Als Dominique Meyer nach einer langen Pause vor dem dritten Akt vor den Vorhang trat, erhob sich erneut ein langer Infight von Buhs und Bravos, bevor der Direktor erklären konnte. Nachdem die Guten obsiegten, sagte Meyer: "Selbst vier Jahre Planung und sechs Wochen Proben können gegen ein Virus nichts ausrichten", und Paolo Rumetz würde nun statt Keenlyside die Aufführung fertigsingen.

Buckeln und Treten

Rumetz, der schon die Generalprobe gesungen hatte und sonst am Haus bei kleineren Partien Einsatz findet, sang die Premiere zwar passabel zu Ende. Doch Keenlyside hatte in den ersten beiden Akten darstellerisch Enormes geleistet. Seine Interpretation des Rigoletto war von fiebriger Intensität. Sein Hofnarr war ein hochnervöser Borderliner; immer wieder entglitten ihm seine Gesichtszüge, zuckte die Zunge aus seinem Mund. Ein physisch und psychisch Versehrter als Souverän des Spotts, ein Außenseiter als rücksichtsloser Opportunist, gefangen und zerrieben zwischen Buckeln und Treten.

Dem Charakterzeichner Keenlyside, erste Kraft am Haus und auf den Opernbühnen der Welt, stand sein satter Bariton bis zu seinem Abgang in leicht limitierter und doch beeindruckender Dringlichkeit zur Verfügung, einzig seine eiligen Tempi kündeten von einer gewissen Kurzatmigkeit.

Auch Erin Morley war bei den Proben erkrankt, doch die Sopranistin genas rechtzeitig und bot bei ihrem Hausdebüt eine makellose, liebens- und erinnernswerte Gilda. Federleicht in den Koloraturen, mit zart-gleißendem Timbre und wundervollen Decrescendi schilderte die US-Amerikanerin das Schicksal dieser Tochter eines Helikopter-Vaters, die sich als gelernte Katholikin zum Schluss für ihren Verführer aufopfert: Brava.

Ein Fels in der Nervositätsbrandung war Piotr Beczala als Duca di Mantova. Nach Keenlysides Abgang lastete viel Druck auf dem gefeierten Polen, und man hatte kurz das Gefühl, dass er diesem beim hohen H im La donna è mobile Tribut zollen musste. Doch schon beim Quartett war alles beim Alten, sprich Weltklasse. Beczala gab einen körperbetont kämpferischen, virilen Duca und sang einfach wundervoll. Mit langem Atem, unerschöpflicher Kraft und souveräner Höhe.

Bei den kleineren Partien hatte man sich mit Mittelmaß zu bescheiden. Ryan Speedo Green war als Sparafucile ein vokal harmloser Auftragskiller, Elena Maximova (Maddalena) verdrehte Beczala eher mit körperlichen Reizen den Kopf.

Im Orchestergraben agierte Dominique Meyers künstlerischer Langzeitfreund Myung-Whun Chung meist mit sängerdienli- cher Vorsicht; nach anfänglich kapellenhaft-plattem Schmiss stachelte der Franz-Welser-Möst-Ersatz das Staatsopernorchester aber zu grimmigem Toben und Stürmen an - etwa bei der "Cortigiani"-Arie, die Keenlyside die Stimme kostete.

Dominique Meyers Amsterdamer Amtskollege Pierre Audi inszenierte Verdis Repertoireklassiker, diese Mischung aus Schauerdrama, Rührstück, Märchen und dem Porträt eines Zerrissenen, Zerriebenen, Versehrten, stimmig, abgesehen von einer bizarr gestellten Eröffnungsszene.

Zeitlose Sprache

Das Glanzstück der Deutung blieb jedoch die Darstellung des Rigoletto. Es bleibt abzuwarten, wie viel davon erhalten bleibt, wenn die Titelfigur von darstellerisch mäßig begabten Sängern interpretiert wird. Die teils farbkräftigen Kostüme weisen ins 16. Jahrhundert, die auf der Drehbühne präsentierten Szenenbilder sprechen eine zeitlose, abstrakte Sprache und schaffen karge Welten des Winters. Der finale Richtspruch des Premierenpublikums: Begeisterung für die Sänger, homöopathische Skepsis für Chung und gemischte Reaktionen für das Regieteam. (Stefan Ender, DER STANDARD, 22.12.2014)