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Respekt, aber keine Wiedergutmachung: der deutsche Präsident Joachim Gauck im vergangenen März im griechischen Dorf Lingiades. Die Wehrmacht brachte dort 82 Bewohner um, 34 waren noch Kinder.

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"Wir haben ihre Unterschriften": Panagiotis Karakousis.

Foto: Markus Bernath

Manches sitzt im Kopf und geht nicht mehr weg. Eine ganze Bevölkerung beschäftigt es, immer noch, irgendwo tief im Inneren. Und die offensichtlich verwirrte Frau, die nun wild mit dem Armen rudernd auf die Fußgänger einredet - sie ist nur ein Spiegel dieser griechischen Seele.

"Es ist Krieg!", ruft die Frau, "es ist Krieg, und ihr sagt nichts. Ihr schaut nur zu. Es ist Krieg, die Deutschen sind gekommen!" Kaum jemand scheint Notiz zu nehmen von der alten Frau mit der Baskenmütze. Es ist Büroschluss, nicht Krieg. Wenn die Ampel auf Grün schaltet, hasten Hunderte über den Boulevard zum U-Bahn-Eingang am Syntagma-Platz im Zentrum von Athen, vorbei an der düsteren Prophetin.

Die deutschen Soldaten waren schon im Land, von April 1941 bis September 1944, und sie hinterließen nichts als verbrannte Erde und die Erinnerung an Hunger, sadistisch ausgeführte Massaker und Deportationen. Die Urgroßmutter des heutigen Premiers Antonis Samaras, die Schriftstellerin Penelope Delta, brachte sich an dem Tag um, an dem die Wehrmacht in Athen einmarschierte.

1,4 Millionen Opfer

Nach einer Stunde Interview im Büro lässt sich Paniagotis Karakousis dann doch zu einer persönlichen Bemerkung hinreißen. Er wird sogar laut, so sehr bringt ihn die ganze Angelegenheit in Wahrheit auf. "Es macht mich traurig zu sehen, dass einige Leute in Deutschland oder anderswo das Offensichtliche bezweifeln. Sie zweifeln an den Schäden, die Griechenland erlitten hat. Dabei reicht es doch schon, sich vor Augen zu halten, dass Griechenland die größten Verluste erlitten hat: 19 Prozent der Bevölkerung zu jener Zeit, 1,4 Millionen Griechen, sind gestorben oder wurden verwundet."

Karakousis wird in wenigen Tagen dem Finanzminister seinen Bericht übergeben. Zwei Jahre lang haben er und seine Arbeitsgruppe geforscht und gerechnet, was Deutschland den Griechen bis heute schuldet. "Wir sind Technokraten", sagt der 66-jährige Beamte, den das Finanzministerium wieder aus der Pension geholt hat. "Ich habe meine Wut beiseitegelegt und versucht, alles objektiv zu berechnen. Und ich möchte betonen, unsere Untersuchungen haben kein politisches Ziel, und sie haben nichts zu tun mit der Kredithilfe für Griechenland."

Vertraulicher Bericht

Karakousis wird keine Zahl nennen. Der Bericht sei vertraulich, entschuldigt er sich. Zehn Milliarden Euro sollen vor Wochen bei einem Briefing der Karakousis-Arbeitsgruppe für einen Parlamentsausschuss genannt worden sein. Hinter verschlossenen Türen. Es wären erheblich weniger als die 162 Milliarden Euro, die Manolis Glezos fordert, der Volksheld, der als Jugendlicher im Mai 1941 mit einem Freund auf die Akropolis ging und die Hakenkreuzfahne herunterriss. Glezos sitzt jetzt, 92-jährig, für das Linksbündnis Syriza im Europaparlament.

Doch zehn Milliarden Euro wären ein Vielfaches von dem, was Westdeutschland den Griechen 1960 zahlte: 115 Millionen D-Mark. Als Entschädigung für die NS-Opfer während der dreieinhalb Jahre Besatzungszeit. 70.000 jüdische Bürger hat die Wehrmacht aus Griechenland in die Konzentrationslager verschleppt; kaum einer kam zurück. 130.000 Zivilisten wurden exekutiert.

Erst zu früh, dann zu spät

Die Argumentation der deutschen Regierungen ist einigermaßen perfide, so merken deutsche Historiker wie Hagen Fleischer oder Albrecht Ritschl immer wieder an: Nach 1945 vertröstete Bonn die Griechen auf später; erst wenn Deutschland wieder vereint sei, könne man die Reparationsfrage endgültig lösen, hieß es. Als die Wiedervereinigung tatsächlich kam, war es eben zu spät; die Deutschen hatten mit den ehemaligen Besatzungsmächten im Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990 Vorkehrungen getroffen, um weitere Ansprüche auf Reparationen abzuwehren. Oder so dachten sie.

Deutschland solle so schnell wie möglich mit der Rückzahlung beginnen, mahnte Karolos Papoulias, das amtierende Staatsoberhaupt, als er im vergangenen Frühjahr den deutschen Präsidenten empfing. "Sie wissen, was ich antworten muss", sagte da Joachim Gauck. "Der Rechtsweg dazu ist abgeschlossen."

Nicht für Panagiotis Karakousis und die Beamten im Athener Finanzministerium, die erstmals die verstreuten Archivakten sammelten. Karakousis malt eine Zahl mit 15 Nullen auf einen Notizblock, damit es kein Missverständnis gibt: 1,5 Trillionen Drachmen. Auf diese Summe belaufen sich die Abgänge, die bei der Bank von Griechenland verzeichnet sind. Vor allem um diesen Zwangskredit geht es, eine offene Kreditlinie, die das Deutsche Reich und Italien den Griechen im März 1942 abgefordert hatte.

Interpretation als Kredit

Die Milliarden Drachmen an monatlichen Besatzungskosten haben die Beamten gar nicht erst einkalkuliert. "Sie waren sozusagen legal", sagt Karakousis. Doch der Kredit ist offen: "Wir haben ihre Unterschriften. Kurz vor Kriegsende haben sie sogar noch zwei Raten zurückgezahlt. Das beweist nur, dass es sich um einen Kredit handelte."

Respekt, aber keine Wiedergutmachung: der deutsche Präsident Joachim Gauck im vergangenen März im griechischen Dorf Lingiades. Die Wehrmacht brachte dort 82 Bewohner um, 34 waren noch Kinder. (Markus Bernath aus Athen, DER STANDARD, 24.12.2014)