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Zusammenhänge, die bisher unbekannt waren: Manchmal können sie Künstler besser als Naturwissenschafter ausdrücken. Zum Beispiel Li Hongbo, der mit seinem Papierskulpturen in Hongkong Furore machte. Kopf und Bauch sind enger miteinander verbunden als bisher angenommen.

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Wer sich verliebt, verschenkt sein Herz, heißt es. Die angenehmen Gefühle dabei, die oft als "Schmetterlinge im Bauch" beschrieben werden, entstehen jedoch - im Darm.

Dieser acht Meter langen Verdauungsschlauch, der sich vom Magen zum After schlängelt, wird häufig unterschätzt. Seine Zellen verdauen nicht nur, was wir essen und trinken und filtern Energie und Nährstoffe aus dem Speisebrei. Der Darm und die Billionen von Mikroben, die in ihm leben, schützen uns auch vor Krankheiten.

Experten behaupten gar, dass der Darm ein eigenes Gehirn besitzt. "Das Darmhirn kann zwar nicht denken", sagt der Schweizer Medizinprofessor Rémy Meier vom Kantonsspital Baselland in Liestal. "Es verwendet aber die gleichen Botenstoffe wie das Kopfhirn und beeinflusst, was wir fühlen, unsere Gesundheit und unser Verhalten stark mit."

Die Darmleistung in Zahlen

30 Tonnen Nahrung schleusen wir im Lauf unseres Lebens durch den Darm. Seine Schleimhaut ist wie eine Ziehharmonika gefaltet und mit unzähligen fingerförmigen Ausstülpungen, den Darmzotten, gespickt. Dadurch entsteht eine riesige Oberfläche von über 200 Quadratmetern – größer als ein Tennisplatz.

Arbeitsteilung hilft dem Darm dabei, den Speisebrei optimal zu verwerten: Im Dünndarm, der direkt am Magenausgang anschließt, zerlegen Enzyme Nahrungsbestandteile wie Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette in ihre Bausteine. Über die Darmzellen gelangen diese dann ins Blut, das sie im ganzen Körper verteilt.

Nur was schwerer verdaulich ist, wird in den Dickdarm weitergeschoben, wo sich Billionen von Bakterien darüber hermachen. "Viele von diesen Winzlingen sind unserer Gesundheit sehr zuträglich", sagt Meier, der seit mehr als 20 Jahren über Darmbakterien forscht. "Sie vergären zum Beispiel hochkomplexe Nahrungsfasern und machen sie für unseren Körper dadurch erst verwertbar."

Die Rolle der Lactobazillen

Vor allem Laktobazillien und Bifidobakterien fördern unser Wohlbefinden. Sie regen die Darmbewegungen an, helfen der Darmschleimhaut bei der Regeneration und unterstützten die Immunabwehr des Körpers - die zu 70 Prozent im Darm organisiert wird.

Ohne dieses Organ und seine engagierten "Untermieter" wären wir bei der Bekämpfung von Krankheitskeimen aufgeschmissen: Millionen von Wächtern wie T-Zellen, B-Zellen und Makrophagen lauern in der Darmschleimhaut auf Eindringlinge, und ein riesiges Heer hilfreicher Bakterien macht den Schutz perfekt.

Fast 1000 verschiedene Bakterienarten leben im Darm. Früher sprach man von der "Darmflora", inzwischen hat sich der Begriff "Mikrobiota" etabliert. Die Mikrobiota jedes Menschen ist so individuell wie sein Fingerabdruck.

Dennoch erkennen Fachleute wie Meier schnell, ob es in einer "Bakterien-Wohngemeinschaft" im Darm kriselt "Und wird jemand krank, so stellen wir sehr oft fest, dass auch seine Mikrobiota aus dem Gleichgewicht geraten ist", sagt der Darmspezialist: zum Beispiel bei Diabetes, rheumatoider Arthritis und Dutzenden weiteren Leiden.

Unklar ist noch, ob Beeinträchtigungen der Darmflora Krankheiten auslösen, oder ob vielmehr aufgrund einer Erkrankung diese durcheinander gewirbelt wird.

Vorsichtig vor Bakterien in Kapselform

Experten vermuten, dass es sich dabei um Wechselwirkungen handelt, die sich gegenseitig verstärken. Ärzte raten ihren Patienten daher mitunter, statt Medikamente lieber Bakterien zu schlucken. Wissenschaftliche Studien haben nämlich gezeigt, dass die Einnahme nützlicher Darmbakterien (Probiotika) die Darmflora positiv beeinflussen und dadurch Beschwerden lindern kann.

Beim Reizdarmsyndrom ist dieser Effekt am besten belegt: Untersuchungen mit insgesamt 1.668 Betroffenen haben ergeben, dass Probiotika bei diesem Leiden die Überwucherung der Dünndarmwand mit schädlichen Keimen zurückdrängen sowie Blähungen und Krämpfe reduzieren können.

"Auch gegen Durchfallerkrankungen helfen manche Darmbakterien", weiß Medizinprofessor Harald Vogelsang, Leiter der Spezialambulanz für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen am Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien. Während und nach längeren Antibiotika-Behandlungen empfiehlt er Patienten daher, solche Mikroben einzunehmen.

Antibiotika und Probiotika

Antibiotika wirken nämlich nicht nur gegen schädliche Keime, sondern können die gesamte Darmflora angreifen und auf diese Weise Durchfälle auslösen. In jedem Fall sei es grob, fahrlässig ohne zwingenden Grund Antibiotika einzunehmen, betont Vogelsang. "Solche Präparate wirken auf die Darmflora wie eine Bombe", sagt er. "Und in der klinischen Arbeit stellen wir fest, dass sehr viele Patienten, die als Erwachsene über chronisch-entzündliche Darmerkrankungen klagen, als Kinder große Mengen von Antibiotika verabreicht bekamen - oft vorschnell bei viralen Infektionen, gegen die solche Medikamente nichts ausrichten können."

Immerhin gebe es für den Wiederaufbau nach solchen "Bombeneinschlägen" nun geeignete Hilfsmittel : "Durch das Verzehren von mit Laktobazillen angereichertem Joghurt, wie es in jedem Supermarkt zu finden ist, lässt sich die Regeneration der Darmflora unterstützen", so Vogelsang.

Alternativ gibt es solche heilsame Bakterien auch als Nahrungsergänzungsmittel in Kapselform. Zukünftige Forschung werde es hoffentlich ermöglichen, noch gezielter diejenigen Bakterienstämme auszuwählen, die gegen das jeweilige Leiden am besten wirken, so der Darm-Experte. "Denn je nach Art der Probiotika können die Effekte sehr unterschiedlich sein."

Darmflora und Übergewicht

Die Macht der Darmbakterien reicht in viele Lebensbereiche hinein: Menschen mit einer geringen Vielfalt von Mikroben im Darm neigen zum Beispiel eher zu Übergewicht, als solche, deren Verdauungsorgan sehr viele unterschiedliche Arten beheimatet.

Das Erfreuliche: Durch eine fettarme Ernährung kann man die Vielfalt seiner Darmbakterien gezielt fördern. Und die Mikrobiota schlanker Menschen kann Übergewichtige schlank machen – zumindest übergewichtige Mäuse.

US-amerikanische Forscher spritzten Labormäusen Stuhl menschlicher Zwillingen, von denen einer normalgewichtig und der andere zu dick war, in den Darm. Diejenigen Nager, die den Kot – und damit unzählige Darmbakterien - des übergewichtigen Zwillings erhielten, wurden selber dick. Die Empfängertiere des Stuhls des normalgewichtigen Zwillings blieben hingegen schlank. Gut möglich, dass ähnliche Tricks eines Tages Menschen beim Abnehmen helfen werden.

Viele Wissenschafter gehen inzwischen davon aus, das die Mikrobiota zu unserem Darmhirn mit dazugerechnet werden muss: zu diesem geheimnisvollen "zweiten Gehirn", dessen Funktionsweise und Aufgaben auch Fachleute erst in Ansätzen verstehen.

Steuerungszentrale im Bauch

Als gesichert gilt, dass das Darmhirn ein hochkomplexes Nervensystem ist, das sich über die gesamte Fläche unseres Verdauungsschlauchs erstreckt und als seine eigene Steuerungszentrale funktioniert: Spezialisierte Sensoren in der Darmwand geben ständig über die Zusammensetzung des Speisebreis Auskunft.

Andere melden, wie stark der Verdauungsschlauch gefüllt ist. So kann das Nervengeflecht immer bedarfsgerecht steuern, wie schnell die Nahrung den Darm durchwandern soll und wie viel Verdauungssaft Pankreas und Galle produzieren müssen.

Das Darmhirn passt auch den Blutfluss an, hält Nachbarorgane über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden und stellt klar, welche Stoffe in die Körperzellen gelangen dürfen und welche abtransportiert werden müssen.

Verblüffend ist, wie ähnlich Darm- und Kopfhirn aufgebaut sind: Nicht nur, dass beide Schaltzentralen gleichartige Nervenzellen nützen. Auch sämtliche Botenstoffe des Kopfhirns strömen ebenfalls durch dasjenige im Darm: Dopamin, Gamma-Aminobuttersäure, Serotonin und 27 weitere.

Und obwohl der Darm die meisten seiner Aufgaben auch ohne Kontakt zum Kopf erledigen könnte, herrscht ein reger Austausch zwischen den beiden Steuerungszentren: Lange hielten Mediziner den Vagusnerv, der als neuronale Verbindung zwischen Kopfhirn und Magen-Darm-Trakt verläuft, für eine Art Sprachrohr "Kopf an Darm". Inzwischen hat sich herausgestellt, dass nur etwa zehn Prozent der Informationen vom Kopf Richtung Darm fließen. Rund 90 Prozent funkt hingegen das Darmhirn in die entgegengesetzte Richtung.

Hunger, Liebe und Gift

Nicht nur wenn wir Hunger haben, oder wenn wir uns verlieben, meldet sich der Darm. Gelangen etwa größere Mengen Giftstoffe in den Verdauungsapparat, so schlägt das Darmhirn blitzschnell Alarm – damit das Kopfhirn Erbrechen auslöst.

Viele andere Signale aus den Gedärmen bekommen wir nicht bewusst mit. Doch Darmhirn und Kopfhirn sind am Dauerplaudern, zeigt die moderne Forschung: Unterschwellig wirken Botschaften aus dem Darm zum Beispiel auch auf das limbische System des Kopfhirns ein – eine Region, die Gefühle verarbeitet. Signale aus dem Magen-Darm-Trakt könne zum Beispiel Ängste verstärken oder hemmen.

Auch die Darmbakterien scheinen, wenn es ums Gefühlsleben geht, einmal mehr mit von der Partie zu sein. Experimente deuten sogar darauf hin, dass diese winzigen Untermieter im Verdauungsapparat neben den Gefühle auch das Verhalten mit beeinflussen: In einem Experiment brachten Forscher die Darmflora von Mäusen mit Hilfe von Antibiotika aus dem Gleichgewicht. Ängstliche Tiere wurden daraufhin mutiger und draufgängerische vorsichtiger.

Des Weiteren stellten die Wissenschaftler fest, dass der Pegel bestimmter Proteine, die das Wachstum neuer Nerven steuern, im Kopfhirn der Mäuse anstieg. Sobald sich ihre Darmflora wieder regeneriert hatte, zeigten die Nagetiere zeigten keine Verhaltensauffälligkeiten mehr und die chemischen Prozessen in ihrem Gehirn normalisierten sich.

Darmbakterien als wissenschaftliches Neuland

Beim Menschen ist das Wechselspiel zwischen Darm, Darmbakterien und Psyche noch wenig erforscht. Erste Studien geben jedoch Anlass zur Hoffnung auf neuartige Therapiemöglichkeiten bei seelischen Erkrankungen: Im Rahmen einer Untersuchung zum chronischen Erschöpfungssyndrom etwa, einer Krankheit, die mit Angststörungen einhergeht, berichteten Testpersonen, die zwei Monate lang Probiotika zu sich genommen hatten, über deutlich weniger Ängste, als die Vergleichsgruppe, die ein Scheinprodukt (Placebo) bekommen hatte.

Den Wiener Darmspezialisten Harald Vogelsang überraschen solche Befunde nicht. "Sehr viele Informationen fließen aus dem Darm Richtung Gehirn und beeinflussen auch unser Gefühlsleben mit", sagt er. Ziemlich sicher wirke sich, was im Verdauungsschlauch passiert, zum Beispiel entscheidend mit darauf aus, ob wir uns frisch und tatkräftig, oder niedergeschlagen und abgeschlafft fühlen.

"Man ist, was man isst", laute ein geflügeltes Wort", sagt Vogelsang. "Die treffendere Beschreibung wäre: "Man ist, was man seinen Darmbakterien zu essen gibt". Vogelsangs Schweizer Kollege Rémy Meier glaubt, dass auch das berühmte "Bauchgefühl", auf das viele Menschen schwören, seinen Ursprung in Wirklichkeit in den Gedärmen hat.

Doch was passiert genau, wenn wir uns zum Beispiel verlieben? Sind, wenn wir "Schmetterlinge im Bauch" spüren, vielleicht unsere Darmbakterien hyperaktiv? Könnte man Liebeskummer womöglich mit Probiotika heilen? Meier lächelt. "Wir stehen da mit der Forschung noch ganz am Anfang", sagt er. "Ich halte es jedoch für wahrscheinlich, dass neue Erkenntnisse zum Darm und seinen Bewohnern die Medizin und die Psychologie in den nächsten zehn Jahren revolutionieren werden." (Till Hein, DER STANDARD, 3.1.2015)