Das alte Hôtel Métropole, eines jener europäischen Hotels, die zum Zeitpunkt ihres Baus als die jeweils größten des Kontinents gegolten hatten. Wobei das 1885 eröffnete und heute als Corinthia London geführte Métropole im Jahr 1916 immer noch das zweitgrößte Hotel Londons gewesen ist.

Foto: Corinthia Hotels

Der Abendregen war dicker und schwerer als er entsprechend der Vorstellung eines richtigen Londoner drizzle sein sollte. Die Stadt glitzerte dunkel, an kaum einer Ecke im Londoner Regierungsviertel war zu übersehen, dass vor gut 100 Jahren der Erste Weltkrieg ausgebrochen war. Kerzen, Kränze und sorgfältig in Plastik verschweißte Briefe übersäten die Denkmäler und Statuen von Whitehall.

Sitz des Munitionsministeriums

Zum Luftholen wechselte ich ans andere Themse-Ufer, ging am London-Eye vorbei und entschied mich kurzerhand gegen eine Fahrt mit dem Riesenrad, sodass ich schnell wieder das Ziel meiner London-Reise vor Augen hatte: Das alte Hôtel Métropole, eines jener europäischen Hotels, die zum Zeitpunkt ihres Baus als die jeweils größten des Kontinents gegolten hatten. Wobei das 1885 eröffnete und heute als Corinthia London geführte Métropole im Jahr 1916 immer noch das zweitgrößte Hotel Londons gewesen ist.

Büro zur Sammlung von UFO-Meldungen

Damals wurde es mitten im Krieg vom Staat requiriert, als Sitz des Munitionsministeriums. Das zweite Mal von 1936 bis 2004 als Teil des Verteidigungsministeriums, in dem während des Zweiten Weltkriegs das Directorate of Military Intelligence die Agententätigkeit in Nazi-Deutschland koordinierte. Später befanden sich hier nicht nur Einsatzstäbe des Falklandkriegs, sondern auch ein Büro zur Sammlung von UFO-Meldungen in Großbritannien.

Mit dem Tod von David Kelly, dem wichtigsten Experten zum chemischen und biologischen Waffenpotential des Irak, der sich im Jahr 2003 hier in seinem Büro erhängte, endeten die Jahre des Ministry of Defence in diesem Gebäude. Zumindest aber entlarvte die daraufhin eingesetzte Untersuchungskommission einige der politischen und militärischen Lügen der Blair-Administration.

Wasser in der Weinbar

Wie der Bug eines noch nie gesehenen Schiffes ragte die Front des schmal zulaufenden Hotels auf das Victoria Embankment, als ich über die Hungerford-Bridge zurückkam. Früher wäre das Hotel mitten im Fluss gestanden. Im Keller der unweit gelegenen Gordon’s Wine Bar lässt sich das Wasser bis heute riechen. An dem Abend ließ ich die Weinbar aus und betrat das Hotel durch den Hintereingang an der Northumberland Avenue. Nachmittags hatte ich hier den Spielerbus von Manchester United kurz vor der Abfahrt zum Spiel gegen Arsenal gesehen. Nun lief das Spiel im Emirates-Stadium noch.

1916 war Churchill eingezogen

Oben im sechsten Hotelstock waren die schweren Vorhänge vom Evening Room Service bereits zugezogen. Im Bett thronten die Pölster wie Könige und am Tisch wartete der Ausdruck des halbfertigen Textes "Wir sind im Krieg". Er hätte vor dem Aufenthalt hier fertig werden sollen, nun sah alles nach zwei weiteren Arbeitstagen aus, doch ein Text über die Gegenwart im "Weltbürgerkrieg" lässt sich eben nicht aus dem Ärmel schütteln. Erst recht nicht an einem Ort wie diesem.

1916 war Winston Churchill als Munitionsminister in dieses Haus eingezogen. Hier trieb er die industrielle Erzeugung von Munition in den beiden darauf folgenden Jahren in davor kaum vorstellbare Ausmaße, wohl wissend, dass der Krieg auch nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten nur dann zu gewinnen war, wenn die USA nicht allein auf den eigenen Nachschub angewiesen waren.

Warten auf Big Ben

Bis Churchill dann im November 1918 hier am Fenster stand und auf das Läuten der Glocken von Big Ben wartete. Er blickte auf die große Northumberland Avenue hinaus, die Straße war völlig leer. Mit dem Glockenschlagen würde der Krieg endlich vorbei sein und Churchill konnte es kaum glauben. Als er Big Ben hörte, war die Straße bis auf eine junge Angestellte, die unweit seines Fensters in einem Hauseingang verschwand, immer noch leer. Minuten später läuteten alle Glocken Londons und die Straßen und Plätze der Hauptstadt waren von jubelnden Menschen überfüllt. All das beschrieb Churchill in seinen Memoiren als etwas Unwirkliches, beinahe Geisterhaftes.

Zwei Jahre später bombardierte die von ihm aufgebaute britische Luftwaffe den großen irakischen Mai-Aufstand. Blickt man heute auf die Northumberland Avenue, wirkt es, als hätte sie damals ihr gesamtes Quantum an Lebendigkeit ein für alle Mal aufgebraucht. Womöglich sogar für eine Illusion.

Rooney oder doch Churchill?

Keine Illusion: Zwei Stunden später sah ich Churchills Gesicht vor mir im Aufzug. Kein Déjà-vu, sondern einfach Wayne Rooney, aus dessen Gesicht einen tatsächlich niemand anderer als Churchill ansieht. Müde wirkte er, obwohl er das entscheidende Tor geschossen hatte. Im Emirates-Stadium, wie die Heimstätte Arsenal Londons heißt. Auch das eine Pointe. Sieger sehen anders aus. (Martin Prinz, DER STANDARD, 10.1.2015)