Knapp ein Drittel der griechischen Bevölkerung lebt an oder unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit schießt durch die Decke. Dem Land geht es schlecht, Frost und Frust sind auf einem Höhepunkt nach jahrzehntelanger Dauerregendschaft von Nea Dimokratia und PASOK. Doch der steinige Weg aus der Krise gelingt nur mit einem Verbleib im Euro, meint der Griechenlandexperte und Politikwissenschafter Christos Katsioulis.

derStandard.at: Griechenland steht am Wochenende vor historischen Wahlen. Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Katsioulis: Die Stimmung ist einerseits angespannt. Gleichzeitig gewinnt man den Eindruck, dass viele den Wahlen freudig entgegenblicken. Sie hoffen wohl, dass sich eben diese Anspannungen, die sich in den letzten Monaten noch verstärkt haben, möglicherweise danach lösen werden. Historisch kann man die Wahl allerdings erst dann bezeichnen, wenn Griechenland erstmals seit 1974 eine Regierung bekommt, die sich nicht aus der Nea Dimokratia und PASOK zusammensetzt.

derStandard.at: Manche Prognosen sagen einen Erdrutschsieg der Opposition, des radikalen Linksbündnisses Syriza von Alexis Tsipras, voraus.

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: ap/Petros Giannakouris

Katsioulis: Man kann davon ausgehen, dass Tsipras diese Wahl gewinnt. Vermutlich mit vier, fünf Prozent Vorsprung . Ein Unsicherheitsfaktor, das darf man nicht vergessen, sind jene zehn Prozent der Wählerinnen und Wähler, die noch vollkommen unentschieden sind. Von einem Erdrutschsieg würde ich aber auf gar keinen Fall sprechen. Die höchsten Prozentsätze, die Tsipras in Umfragen bislang zugesprochen wurden, liegen bei 35 bis 36 Prozent. Ein Erdrutschsieg für griechische Verhältnisse erzielte beispielsweise die PASOK 2009 mit einem Ergebnis von 44 Prozent.

derStandard.at: Ein Wahlsieger Tsipras: Gewinn oder ein Schaden für Griechenland?

Katsioulis: Das kann man erst danach beantworten. Meiner Meinung nach, denken viele Griechen, sie hätten es noch einmal zweieinhalb Jahre mit der jetzigen Regierung versucht – besser geworden ist dabei nichts, ganz im Gegenteil – und viel schlechter kann es nicht werden. Wir haben es mit einer Mischung aus Frustration, Protestwählertum, Fatalismus und dem Wunsch nach einem Neuanfang zu tun, um den Teufelskreis aus Sparpolitik und Rezession aufzubrechen.

derStandard.at: Welche Folgen hätte es, wenn Tsipras von dem vorgegebenen Reformkurs durch die EU-Helfer massiv abrückt?

Katsioulis: Kurzfristig wäre eine Folge, dass die letzte Rate des Hilfsprogramms in Höhe von 7,2 Milliarden Euro nicht ausbezahlt werden könnte. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit wird sich dann wohl ein großes Loch in den griechischen Staatskassen auftun. Damit wäre vielleicht schon im Frühjahr, spätestens aber im Sommer zu rechnen – nämlich dann, wenn eine Staatsanleihe, die bei der Europäischen Zentralbank ausläuft, neu bedient werden muss. Tsipras versucht allerdings, diesen harten Bruch nicht so hart erscheinen zu lassen, indem er immer wieder betont, dass er sich an die Verträge halten wird. Was genau er damit meint, kann man im Moment aber noch nicht sagen.

derStandard.at: So wie es aussieht, müssen sich die "Euro-Retter" nach der Wahl aber zumindest auf Gegenwind einstellen?

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Reuters/John Kolesidis

Katsioulis: Ich denke, der Gegenwind bezieht sich auf die sozialen Gräben, die das Sparprogramm in den letzten Jahren aufgerissen hat. Etwa 30 Prozent der griechischen Bürger leben derzeit an oder unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit insgesamt liegt bei 25 Prozent, bei den Jungen sogar bei über 50 Prozent und das Haushaltseinkommen der griechischen Familien hat sich in den letzten Jahren ebenfalls um 30 Prozent verringert. Vergleicht man die Lebenssituation mit der im Jahr 2009, sind die Einkommensverluste enorm.

derStandard.at: Die Leidensgrenze ist erreicht?

Katsioulis: Ja, auch weil die familiären Reserven nicht mehr ausreichen. Viele der Ersparnisse wurden aufgebraucht, um die hohen Steuern zu bezahlen. Die Lebenshaltungskosten beginnen zwar jetzt langsam zu sinken, aber nicht stark genug in Anbetracht der Lohnsenkungen.

derStandard.at: Tsipras steht für eine radikale Abkehr der bisherigen Sparpolitik. Unter anderem fordert er einen Schuldenerlass für Griechenland. Wie realistisch sind solche Ambitionen?

Katsioulis: Es ist ihm mittlerweile wohl selbst klar geworden, dass die Verwirklichungschancen für seine radikalen Forderungen nicht besonders groß sind. Er hat ja bereits begonnen, diese leicht abzuschwächen oder zu verwässern, indem er beispielsweise nicht mehr von einem Schuldenerlass, sondern von einer Schuldenrestrukturierung spricht. Was die Sparpolitik betrifft, ist er nicht der einzige, der die Auswirkungen kritisiert beziehungsweise anzweifelt, dass sie je dazu beitragen wird, dass Griechenland seinen Schuldendienst bedienen kann. Letzteres ist keine radikalen Position, sondern eine, die auf einer gesunden Analyse der Lage basiert.

derStandard.at: Mit einem Wirtschaftsprogramm von zwölf Milliarden will er die Armen unterstützen. Wie will er das stemmen?

Katsioulis: Genau diese Frage wurde Tsipras in den letzten Wochen immer wieder gestellt. Er hat sie konsequent nicht beantwortet. Statt eines Wirtschaftsprogramms handelt es sich de facto um ein Sozialprogramm. Syriza gibt sich immer wieder ausweichend, behauptet, die geplanten Maßnahmen wären unter anderem durch Bekämpfung von Korruption oder Anhebung von Steuern für Reiche vollkommen gegenfinanziert. Allerdings wird man den Eindruck nicht los, dass all das nicht auf sauberen Berechnungen basiert. Syriza versucht, Stimmungen zu bedienen, ohne sich konkret festzulegen.

derStandard.at: Stichwort Grexit, also der wieder diskutierte Austritt aus dem Euro. Wäre dieser ein Heilmittel?

Katsioulis: Das glaube ich nicht. Ein Grexit ist kein Exit. Wirtschaftlich hätte ein Austritt kurzfristig dramatische Folgen, die Importe würden sich massiv verteuern. Zum anderen wären die Schulden weiterhin in Euro zu begleichen und dadurch noch weniger tragbar als sie es im Moment schon sind. Und nicht zuletzt ist die Mitgliedschaft in der Eurozone für Griechenland viel mehr als nur eine ökonomische Bindung. Ein Austritt wäre für die Griechen ein politischer Ausschluss aus Europa und würde das Land wesentlich stärker treffen, als man sich das heute überhaupt vorstellen könnte.

derStandard.at: Warum wollen die Stimmen über einen Austritt dennoch nicht verstummen?

Katsioulis: Wenn wir ehrlich sind, wird die Grexit-Debatte in Griechenland nur noch von der Regierung geführt. Nur sie schürt die Angst, das Land werde pleitegehen und steuere auf eine Katastrophe zu. Die Regierung hat offenbar keine besseren Argumente und greift so zum Mittel der negativen Wahlkampagne.

derStandard.at: Sind Sie optimistisch für Griechenland? Vor allem vor dem Hintergrund, dass die Europäische Zentralbank nun Staatsanleihen im großen Stil ankauft?

Katsioulis: Vorsichtig ja. Wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahren an fiskalischer Konsolidierung erreicht wurde, wie dieses unglaublich große Haushaltsdefizit geschlossen und selbst ein Primärüberschuss erreicht wurde, wird deutlich, dass Griechenland reformfähig ist. Das Problem ist, dass die griechische Wirtschaft am Boden liegt und an einem unglaublichen Liquiditätsmangel leidet. Die Entscheidung der EZB zum Quantitative Easing und des Einschlusses Griechenlands unter Bedingungen war ein positiver Schritt, es sind aber weiterhin Strukturreformen, wie Entbürokratisierung oder gezielte öffentliche und private Investitionen nötig. Damit ist jetzt nicht nur der Tourismus oder die Landwirtschaft gemeint, sondern Bereiche wie beispielsweise Softwareentwicklung oder andere Hochtechnologie-Bereiche.

derStandard.at: Ihre Prognose – wann ist Griechenland wieder auf den Beinen?

Katsioulis: Der Internationale Währungsfonds ging zu Beginn des Hilfsprogramms von einigen wenigen Krisenjahren aus. Das zeigt, wie leicht solche Schätzungen daneben gehen können. Ich glaube und hoffe, dass es in zwei, drei Jahren Anzeichen gibt, dass die griechische Wirtschaft wieder an Schwung gewinnt und Fahrt nach oben aufnimmt. Um das Niveau vor der Krise zu erreichen, müssen wir wohl von einem Zeitraum von einem Jahrzehnt sprechen, da hier ganz, ganz tiefe Lücken gerissen wurden. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 25.1.2015)