Mit Ruck- und Schlafsack fühlt man sich gleich als etwas Besonderes neben den Tagestouristen, die ohne Gepäck übersetzen. Die Margarita, ein motorisierter Fischkutter aus Holz, braucht 17 Minuten, um den westlichsten Zipfel Mallorcas mit dem Inselchen Dragonera, der Dracheninsel, zu verbinden. Das Ziel ist ein Naturschutzgebiet, unbewohnt, knapp drei Quadratkilometer klein, drachenförmig, daher der Name. Während sich die Passagiere Sonnencreme ins Gesicht schmieren, Fotos machen und aufgeregt plaudern, schiebt sich der bucklige Drache immer näher. Bald ist der Naturhafen und einzige Badestrand des nur vier Kilometer langen Eilands zu sehen.
Miguel McMinn hat diese Fahrt unzählige Male unternommen. Der spanisch-schottische Biologe lebt in Palma de Mallorca und arbeitet unter anderem mit der Universität Oxford zusammen. Er liebt Dragonera, vor allem dann, wenn die Tagesgäste weg sind. Das ist praktisch immer der Fall, außer zwischen zehn und 17 Uhr.
Wer diese ungestörten Stunden auf dem felsigen Inselchen genießen will, wer sich mit Dosenfutter, Oliven und Weißbrot begnügt und gut zu Fuß ist, der sollte sich die Einladung des Ornithologen nicht entgehen lassen. Er organisiert auf Dragonera und Cabrera, einer südlich vor Mallorca gelegenen Inselgruppe, vogelkundliche Wanderungen mit Übernachtung. Hier auf der Dracheninsel führen sie an den Steilküsten entlang und zu den beiden Leuchttürmen. Mit dem Fernglas in der Hand erklärt McMinn, welche Arten hier leben, zeigt am Nachmittag Eidechsen, Delfine, Mittelmeermöwen und Eleonorenfalken.
Allein mit den Sturmtauchern
Kurz vor Sonnenuntergang bezieht man ein Stockbett in der Hütte, setzt sich zum Essen zusammen und erwartet den wichtigsten Moment des Tages. Allein schon wegen des erhebenden Gefühls, die Insel für sich zu haben, lohnt der Ausflug. Von den Sturmtauchern ganz zu schweigen.
Die Balearischen Sturmtaucher (Puffinus mauretanicus) sind eine Unterart der Sturmvögel: kleiner als Möwen, mit graubraunem Gefieder, dunklen Augen, Füßen und Schnäbeln. Sie brüten nur an den Küsten der Balearischen Inseln, doch der Tourismus hat ihnen wenig Platz gelassen, um die Küken ungestört aufzuziehen. Und Katzen, Ratten und Raubvögel fressen ihre Eier oder die flugunfähigen Jungvögel. Deshalb ist der Bestand derart zurückgegangen, dass die Seevögel mittlerweile auf der Roten Liste der stark vom Aussterben bedrohten Arten stehen - neben dem Iberischen Luchs, der Echten Karettschildkröte oder dem Berggorilla.
Bedrohtester Vogel Europas
Die Weltnaturschutzunion nennt den Balearischen Sturmtaucher den bedrohtesten Vogel Europas. Spanische Vogelschützer schätzen, dass es ungefähr noch 20.000 Individuen gibt. Verbessern sich die Lebensumstände nicht, dann werde es in 50 Jahren im allerbesten Fall noch 2500 Exemplare geben, vermutet die Organisation Bird-Life International - sofern dann nicht alle verschwunden sind.
Sooft McMinn kann, sucht und erforscht er die Vögel. Hier, an der Küste der Insel Dragonera, brüten jedes Jahr ab Februar rund 400 Paare. Sie kommen im Winter und gehen im Frühsommer. Dazwischen werden Balz, Brut und Aufzucht erledigt. Den Rest des Jahres verbringen die athletischen Flieger über dem Wasser, ziehen vom Mittelmeer durch die Meerenge von Gibraltar auf den Atlantik, fliegen an der portugiesischen Küste entlang, gelangen bis Großbritannien und zur Nordsee. Land betreten sie während dieser Monate nicht. Um sich zu ernähren, tauchen sie bis zu 20 Meter tief nach kleinen Fischen oder folgen Fischkuttern, die ihnen das Futter an die Oberfläche treiben. Werden sie müde, schlafen sie auf den Wellen.
Nutzlose Heimlichtuerei
Während der Brutzeit an der Küste ist alles anders. Als ob sie wüssten, dass ihre Tage gezählt sind, haben sich die Tiere auf den Balearen neue Überlebensstrategien angeeignet. Ihre Nester fliegen sie ohne Gesang und bei Dunkelheit an. Doch viel nützt diese "Heimlichtuerei" nicht, denn andere Gewohnheiten machen die Art anfällig für ihr Verschwinden: Die Vögel legen nur ein Ei pro Jahr. Ist es geschlüpft, wird das Junge so lange aufgezogen, bis es fast doppelt so viel wiegt wie die Eltern. Dann lassen diese ihr flauschiges Riesenküken allein, um die große Reise anzutreten. Es beginnt die kritische Phase für den Nachwuchs.
"Ein Großteil der Sturmtaucher überlebt das erste Jahr nicht", sagt McMinn. Selbst auf Dragonera, wo es keine Landräuber gibt, sterben viele. Sie fliegen den Lichtern von Sant Elm auf Mallorca entgegen, verirren sich, finden keinen Ruheplatz. Oder sie werden von Möwen und Falken gefressen.
Laut und wagemutig
Jetzt, im Winter, kann man den Vögeln bei der Balz zuhören. Dann sind sie besonders laut und wagemutig. Am besten tut man das nachts, mit einer rot leuchtenden Stirnlampe auf dem Kopf - rotes Licht stört sie nicht - und dick eingepackt. Dragoneras Winternächte sind feucht, wenn auch nicht besonders kalt.
Es ist vier Uhr morgens. Wir stehen auf dem Landesteg der Margarita, dort, wo vor ein paar Stunden eingecremte Touristen forsch an Land gingen, um einen der vier Wanderwege der Insel zu erkunden. Jetzt plätschern nur die Wellen an die Pfosten des Stegs. Der Mond scheint voll, der Himmel ist klar. Am Horizont spannt sich die Lichterkette von Sant Elm.
Auf einmal kommt etwas aus der Luft geschossen. Klein und dunkel, schon ist es wieder weg. Die Bucht füllt sich nach und nach, fast glaubt man, es seien Fledermäuse, doch ihr Flug ist nicht flatterig, sondern linear, kunstvoll und schnell, erinnert an Schwalben. "Keine Angst, sie fühlen sich nicht bedroht", flüstert McMinn, "sie spielen."
Im Flug kreischen, gackern und jaulen die Sturmtaucher, manchmal hören sie sich an wie Enten, dann wie Möwen, sogar an wimmernde Katzenjunge muss man denken. "Hier haben sie ihre Nester", sagt McMinn leise und deutet auf eine der Felswände, die die kleine Bucht umspannen. "Die Männchen machen den Weibchen ihre Höhle schmackhaft."
Flirtende Luftakrobaten
Vom Landesteg aus ist das Spektakel in seiner ganzen Pracht zu erfassen: Unter den Holzbrettern ruht das dunkle, glatte Wasser, in dem sich der Mond spiegelt, darüber läuft weiter die Show der flirtenden Luftakrobaten. Dann fängt das Meer auch noch an zu leuchten. Kleine Einzeller haben im Wasser ihren Biolumineszenzmodus aktiviert. Die Lichtpünktchen glühen auf und erlöschen, fast ist ein Rhythmus zu erkennen, nach dem auch die Sturmtaucher hin und her sausen. Alles passt zusammen. Man meint, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. (Brigitte Kramer, DER STANDARD, 24.1.2015)