Ein Forschungsprojekt der Uni Graz analysiert die Gründe für den Wallfahrtsboom. Bei der traditionellen Leonhardifahrt zu Ehren des heiligen Leonhard führen zahlreiche Pferdegespanne die Pilger vom deutschen Oberwarngau ins nahegelegene Allerheiligen.

Graz - Als bei Helmut Eberhart am vergangenen Sonntag wieder einmal ein Gratisblatt auf der Türschwelle liegt, muss er schmunzeln. "Neuer Urlaubstrend: Reise zum Sinn des Lebens" lautet die große Schlagzeile. Eine Umfrage der Wirtschaftskammer Steiermark und der Tourismusschulen Bad Gleichenberg hat ergeben, dass für 36,6 Prozent der Steirer der Urlaub die Zeit für die Sinnsuche ist. "Das bestätigt meine Forschungsergebnisse", sagt der Grazer Kulturanthropologe. Er untersucht seit rund 40 Jahren das Wallfahren.

Unbestimmte Sehnsucht

Schon seine ersten Studien hinsichtlich der Motivation von Pilgern zeigten: "Bei der Wallfahrt oder der Pilgerreise - ich halte eine Trennung der Begriffe für falsch - geht es vielen um die Sehnsucht nach der Gemeinschaft, dem gemeinsamen Erlebnis." Als zweites Hauptmotiv nennt Eberhart "eine unbestimmte Sehnsucht nach Spiritualität - oder eben Sinnsuche".

Wieder andere möchten dem schnelllebigen Alltag entfliehen und zur Ruhe kommen. Experten sprechen in diesem Zusammenhang seit einigen Jahren gerne vom "Slow-Tourismus", dem Reisen zwischen Langsamkeit und Sinnlichkeit. Auch pures Interesse an kulturhistorischen Routen oder sportlicher Ehrgeiz lassen die Menschen heute pilgern.

"Das Wallfahren war auch im Mittelalter nie eine ausschließlich sakrale Angelegenheit. Für die Bauern und Dienstboten war die Wallfahrt vielmehr der einzige Urlaub - sonst durften sie ja nicht weg", sagt der Professor für Volkskunde und Kulturanthropologie von der Uni Graz.

Schon früh ging das Pilgern also über das Bußetun hinaus. Heute sind allerdings nicht nur Katholiken, sondern auch Atheisten, Agnostiker, Esoteriker oder eben Suchende auf anderen Ebenen auf Pilgerreise, wie Eberhart beobachten konnte. Mit Studierenden untersuchte er im Rahmen eines EU-Projekts steirische Pilgerwege auf deren touristische Herausforderungen.

Unumstritten ist: Pilgern oder Wallfahren boomt. Das zeigt die Statistik. Der älteste Pilgerweg in Österreich ist die Via Sacra. In rund vier Tagen können Pilger von Wien nach Mariazell gehen. Im Jahr 2013 hatten sich die Nächtigungszahlen auf der Via Sacra seit 2009 verfünffacht.

Genaue Messungen, wie viele Pilger den Weg jährlich begehen, gibt es hingegen nicht, auch bei den Nächtigungen in der Region wird nicht zwischen Radurlaubern, Wanderern, Familien und den Sinnsuchenden unterschieden, weswegen die genaue Zahl der Pilgernächtigungen nicht bekannt ist.

Beim berühmten Jakobsweg zählte das Pilgerbüro vor Ort 2014 jedenfalls rund 237.000 Pilger, die im spanischen Santiago de Compostela ankamen.

Das Wallfahren erlebte schon mehrere Blütezeiten: Nach einem ersten Boom im Spätmittelalter brach dieser mit der Reformation ab. Mit der Gegenreformation kam die zweite Welle. Vor der Aufklärung habe es in der Steiermark immerhin über 200 Wallfahrtsorte gegeben, sagt Eberhart.

Suche nach Sicherheit

Die dritte Blütezeit setzte etwa 1980 ein. Das fällt zeitlich mit einer Vermehrung der Heimatmuseen zusammen. Auch wenn Eber-hart hier keine direkte Verbindung sieht: "Auslöser war wohl das Gefühl der Verunsicherung durch die zunehmende Technisierung der Welt. Es gab zunehmend Verlustängste und eine verstärkte Suche nach Sicherheit. All diese Dinge werden durch das Wallfahren kompensiert."

Die Tourismusverbände reagierten auf die neuen Urlaubsbedürfnisse vor etwa 15 Jahren. Denn gut organisierte und vielgenutzte Pilgerrouten bedeuteten auch einen Aufschwung für die Region, gesteigerte Nächtigungszahlen, gute Umsätze für die Gastronomen und Präsentationsfläche für die eigenen Kulturgüter. "Die Kirche hat sich mittlerweile ebenfalls des Trends angenommen", erzählt Eberhart. Schon im Jahr 2000 konnte er erheben, dass etwa 90 Prozent aller steirischen Pfarren zumindest eine Wallfahrt pro Jahr anbieten.

Seit 30 Jahren begleitet der Grazer auch selbst eine Wallfahrt: die jährlich stattfindende dreitägige Pestwallfahrt von der steirischen Gemeinde Sankt Anna am Lavantegg zum Wallfahrtsort Maria Hilf ob Guttaring in Kärnten - eine klassische Bauernwallfahrt, bei der ein ganzes Dorf loszieht.

Sein gesammeltes Material darüber wird er wohl nie auswerten: "Ich habe nach dieser langen Zeit die Distanz verloren." Seine anderen Forschungsprojekte hätten aber gezeigt, dass heute "der Weg für die Pilger sehr wichtig geworden ist". Pilgern ist heute mehr denn je eine Erlebnisreise.

Konkurrenz für Kirche

Über 90 Prozent des Wallfahrtsangebots sind in den letzten 30 Jahren entstanden, schätzt Eber-hart. Es gebe nur noch wenige historische Wallfahrten, bei denen die Mitglieder betend und in Prozession gehen.

Doch auch die klassischen alten Wallfahrten liegen im Trend. Aber bei dem großen Angebot von Wallfahrten steht die Kirche heute "in Konkurrenz mit unzähligen Anbietern der Sinnstiftung". Um sich hier zu behaupten, müsse die Kirche die Wallfahrer "dort abholen, wo sie emotional sind".

Eberhart meint damit, was einige Grazer Pfarren bereits umsetzen. In ihren Werbebroschüren heißt es nicht mehr länger: "Geht mit uns wallfahren, das tut gut für die Sünden". Sie laden vielmehr ein: "Verbringt mit uns ein paar schöne Tage in der Gemeinschaft".

Die katholische Kirche Steiermark entwickelte unter Mithilfe von Eberhart eine App namens "Kirche unterwegs". Das kann als weitsichtig gelten. Denn, davon ist der Forscher überzeugt: "In absehbarer Zeit wird der Boom des Wallfahrens oder Pilgerns jedenfalls nicht wieder vergehen." (Lena Yadlapalli, DER STANDARD, 28.1.2015)