"Undiszipliniert", sagt Helmut Kramer, sind die Alternsfragen - also hat er eine interdisziplinäre Plattform gegründet

Foto: Regine hendrich

STANDARD: Die Generationenproblematik: wie sieht sie wirklich aus?

Kramer: Die Alterung der Gesellschaft hat zwei Ursachen: zunehmende Lebenserwartung und rückläufige Geburtenzahlen. Längere Lebenserwartung ist eine Chance auf ein insgesamt erfüllteres Leben, ein Geschenk. Aber das Ungleichgewicht zwischen den Generationen löst gleichzeitig Probleme aus, die Institutionen und Gewohnheiten in Frage stellen. Die ungewöhnlich starke Babyboom-Generation muss im Ruhestand von den nachrückenden weit schwächeren Altersgruppen mit Kaufkraft und Konsumgütern versorgt werden; übrigens auch dann, wenn die ältere durch angespartes Kapital für den Ruhestand vorgesorgt hätte - was für Österreich ohnehin kaum zutrifft.

STANDARD: Unabänderliche Schicksale der Demografie?

Kramer: Nein. Probleme der Alterung der Gesellschaft sind nicht ein unabänderliches Schicksal der Demographie. Fehlende Köpfe und Hände können durch Verstand ersetzt werden, durch bessere Bildung, Organisation und Know-how, und: die Generationenablöse ist nicht allein ein Problem der Senioren, sondern mehr noch für die Jüngeren. Über wirtschaftliche Zusammenhänge hinaus sind Veränderungen der gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Ziele wesentliche Elemente. Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft bekommen wieder eine wichtige Rolle. Alterung der Gesellschaft ist nicht allein Angelegenheit des Staates.

STANDARD: Es fehlt an Strategie?

Kramer: Manche Länder Europas haben nationale Strategien für die Epoche der Alterung entwickelt. Österreich nicht. Hier stellte man stattdessen die Frage: "Wir altern – na und?" im Sinne von "Wo ist da ein Problem?". Eine Gesellschaft kann vorbereitet sein, auch wenn sicher die Zukunft Überraschungen bereithält. Noch immer möchte die österreichische Politik signalisieren: "Die Pensionen sind sicher, keine unnötige Unruhe!" Wenn es um die Zukunft geht, ist grundsätzlich nichts sicher, auch nicht die Pensionen, schon gar nicht, wenn nicht gesagt wird, in welcher Höhe. Gleichzeitig werden in knapper Folge "Pensionsreformen" präsentiert und behauptet, sie hielten für Generationen. Die Bevölkerung ist längst beunruhigt, jüngere resignieren bereits. Es geht auch nicht nur um Pensionen, die Veränderungen erfassen alle Bereiche des Lebens.

STANDARD: Was hat Sie zur Gründung der ÖPIA bewogen?

Kramer: Ich beschäftige mich mit dem Thema gesellschaftliche Alterung schon seit zehn Jahren, seit meiner Pensionierung im Wifo. Ich suchte nach Menschen, die aus ihrer Expertise dazu beitragen könnten: Mediziner, Psychologen, Soziologen, Kenner der Bildungs- und, unvermeidlich, der Wirtschafts- und Finanzwissenschaft. Zusammen gründeten wir 2009 die ÖPIA. Auch der Altmeister der österreichischen Alternsforschung, Leopold Rosenmayr, tut mit. Wir sind überzeugt, dass die komplexen Fragen nicht von einer einzigen Fachwissenschaft beantwortet werden können. Umfassende Strategien kommen nicht allein von medizinischer Grundlagenforschung, ebenso wenig von innovativen Technologien, auch nicht vom Drehen an den Stellschrauben der Sozialversicherung. All diese Elemente müssen zusammenwirken. Dabei tauchen auch schwierige Fragen der Ethik und Fairness auf. Die großen Probleme der Gesellschaft sind "undiszipliniert". Herkömmliche Fachdisziplinen decken Teilaspekte ab. Daher ist unsere Denk- und Arbeitsweise "interdisziplinär". ÖPIA betreibt nicht nur Wissenschaft, sondern fördert auch die Bewusstseinsbildung in Politik und Öffentlichkeit.

STANDARD: Wie geht es der Plattform in Zeiten ausgetrockneter außeruniversitärer Forschung?

Kramer: Wir fanden Unterstützung beim Wissenschaftsminister Johannes Hahn. Viel brauchten wir nicht: ein kleines Sekretariat, etwas Aufwand für Gastvorlesungen, etwas Unterstützung für Dissertanten. Inzwischen wurde vom Bund die Unterstützung für außeruniversitäre Forschung radikal gekürzt, übrigens ohne jegliche wissenschaftliche Evaluierung. Die ÖPIA ist auf Drittmittelfinanzierung verwiesen, was viel kostbare Arbeitskapazität bindet und konsequente Planung erschwert. Bei Minister Töchterle anklopfend hofften wir auf Unterstützung mit dem Argument, uns wäre mit dem Gegenwert von ein paar Zentimetern Koralm-Tunnel geholfen. Aber so viel hatte er nicht. Es ist, nebenbei, beschämend, wie wenig Bereitschaft in Österreich Unternehmen und Stiftungen zeigen, gesellschaftlich relevante Forschung, unabhängig von Public Relations, zu unterstützen. Manchmal wird signalisiert, das Thema "Altern" sei eben nicht sexy. Dabei geht es ebenso sehr um "jung" wie um "alt". Von Generationenfragen will ein Teil der Politiker nichts wissen. Sie sind politisch höchst unbequem. Aber sie drängen.

STANDARD: Alternsgerechtes Arbeiten hat in Österreich, ganz im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, keine große universitäre Verankerung (Lehrstuhl, Stiftungsprofessur). Warum ist das so?

Kramer: Wünschenswert und notwendig wäre das allerdings. Die Forschung zeigt, dass eine altersmäßig gemischte Belegschaft höhere Produktivität erreicht. Volkswirtschaftlich ist ohnehin klar, dass Aktivität über 60 Jahre hinaus und ausreichende Arbeitsplätze für den Nachwuchs nicht Gegensätze sein müssen. Altersgerechtes Arbeiten hängt stark von lebenslanger Weiterbildung ab, besonders in mittlerem Alter, das oft doppelt und dreifach belastet ist. Österreich könnte viel mehr an Forschung und Lehre darüber brauchen.

STANDARD: Wie nehmen Sie die gegenwärtige Diskussion zu Alternsfragen wahr? Wie könnte die Brücke zwischen Einzel- und Gruppeninteressen aussehen?

Kramer: Die politische Diskussion konzentriert sich auf Perspektiven der gesetzlichen Pensionen. Der jüngste Bericht der offiziellen Pensionskommission über die langfristigen Pensionsperspektiven überzeugt nicht. Er ist – wie seine Vorgänger – zweckoptimistisch. In Sachen Pensionsreform tritt – übrigens unabhängig von der ÖPIA - eine Gruppe von engagierten und ernst zu nehmenden Wissenschaftern an die Öffentlichkeit: höchst unerwünscht aus Sicht der zuständigen Politik. Wann immer sie sich öffentlich äußern, wird ihnen "unnötige Panikmache" vorgeworfen, werden sie als "selbsternannte Experten" abqualifiziert. Der ÖPIA geht es nicht nur um das Pensionssystem. Perspektiven von Pflege, Gesundheit und, auf längere Sicht entscheidend, Bildung hängen eng zusammen. In all diesen Bereichen wird hierzulande unkoordiniert herum-reformiert, ohne Gesamtkonzepte für Optionen und Ziele einer alternden Gesellschaft zu erarbeiten. Nun kommt auch noch die fällige Senkung der Staatsschulden hinzu, die Verlangsamung des Wachstums und unvermeidlich mehr Aufwand für Sicherheit und für Klimapolitik, wo schöne Worte nicht mehr genügen. Es gibt ein paar schwache Signale der Politik, längerfristige Probleme nicht mehr wie bisher schwelen zu lassen und verschieben zu wollen. Hoffentlich. Letztlich geht es um Lebens- und Überlebensfragen unseres Volkes.

STANDARD: Persönliche Frage: warum tun Sie sich das an?

Kramer: Warum sollte ich nicht? Die Fragen bewegen mich – nicht in Hinblick auf meinen eigenen Lebensabend, sondern in Hinblick auf die Generation meiner Kinder und Enkelkinder. Und körperlich belastend ist wissenschaftliche Arbeit ja nicht sehr.