Sheila Coronel von der Columbia University in New York.

Foto: Columbia Journalism School

derStandard.at: Viele Medien in Europa stecken mitten in der Krise. Redaktionen müssen laufend verkleinert werden, gleichzeitig wird die Online-Berichterstattung ausgebaut. Wie sollen sich Tageszeitungen organisieren, damit noch Zeit bleibt für Qualitätsjournalismus?

Coronel: Nehmen Sie die "New York Times": Auch dort wird Personal abgebaut, aber nicht aus den Investigativ- und Datenteams. Jeder kann News machen, aber nicht jeder kann originelle Zugänge dazu finden. Schnell zu sein reicht nicht, das alleine wird die Leser nicht halten. Der "Guardian" etwa wird von seinen Lesern für die Aufbereitung der Geschichten geschätzt. Das ist enorm wichtig für die Marke! Alle Ereignisse abzudecken kann nicht das Ziel sein – vor allem nicht in einer Zeit, in der sich Technologien so rasant verändern. Zeitungen wetteifern nicht nur gegen traditionelle Nachrichtenportale, sie konkurrieren mit jedem. Der Unterschied ist die Fähigkeit, eine Leserschaft aufzubauen und zu halten.

derStandard.at: Ist Investigativjournalismus die Königsdisziplin oder eine unter vielen?

Coronel: Ich würde sagen, es ist ein Genre. Es gibt viele Arten investigativ zu arbeiten, vor allem in Ländern mit repressiven Regimen. Derzeit gibt es eine frische Welle, die durch neue Technologien und eine neue Generation von Journalisten vorangetrieben wird.

derStandard.at: Ist Aufdeckerjournalismus ohne Technik heute überhaupt möglich?

Coronel: Technologie ist nicht der Punkt. Recherche wird vor allem benutzt, um sich vom Mitbewerb abzuheben. Es ist prestigevoll für eine Redaktion, wenn sie Preise gewinnt, damit lässt sich eine Stammleserschaft aufbauen. Ich denke, es gibt derzeit einen großen Hype um technische Spielereien.

derStandard.at: Es ist auf jeden Fall leichter geworden, an Daten zu kommen, die früher unter Verschluss waren.

Coronel: Sicher, aber es bleibt ein harter Job. Die Welt ist demokratischer geworden, weil jeder Mensch Berichte im Internet veröffentlichen kann. Und es ist leichter, nach Informationen zu graben, sie zu teilen und zu analysieren. Aber Technologie alleine reicht nicht. Ohne Kenntnisse für Datenanalyse und Statistik geht das nicht.

derStandard.at: Auf der anderen Seite werden riesige Datenmengen gesammelt. Besteht die Gefahr, dass Journalisten den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen?

Coronel: Das glaube ich nicht. Aber Journalisten erfahren heute viel weniger Unterstützung in den Redaktionen – das macht alles schwieriger. Es braucht kein Big Data für investigativen Journalismus. Das ist der Hype, von dem ich gesprochen habe. Relevant sind mittelgroße Datensätze, die in den Händen von Behörden sind. Es geht darum, brisante Informationen zu beschaffen und nicht darum, gigantische Datenmengen interpretieren zu können.

derStandard.at: Lassen sich Redaktionen von dem Hype um Big Data blenden?

Coronel: Ja, das denke ich. Big Data ist eines dieser funkelnden Dinge, mit denen man sich vermeintlich schmücken kann. Der Großteil der relevanten Informationen kann mit den Werkzeugen analysiert werden, die den Redaktionen schon jetzt zur Verfügung stehen. Für vieles braucht es die teuersten Computerprogramme nicht.

derStandard.at: Sie haben als junge Frau auf den Philippinen ein Ausbildungszentrum für Investigativ-Recherche aufgebaut. Welche Fähigkeiten brauchen Journalisten heutzutage?

Coronel: Es geht darum, verborgene Informationen aufzuspüren, die für die Allgemeinheit wichtig sind. Journalisten müssen Gespräche führen, um auf die richtige Fährte zu kommen. Dafür müssen sie Kontakte knüpfen und eine Vertrauensbasis schaffen. Und sie müssen Verständnis für ein Thema entwickeln.

derStandard.at: Wie wichtig ist es, sich auf den Traffic, also die Menge der Leser, zu konzentrieren?

Coronel: Das halte ich für sehr kurzsichtig. Ausschlaggebend ist nicht die Quantität, sondern wie viel Zeit jemand auf einer Seite verbringt. Die Leser, die für 30 Sekunden reinklicken, sind nicht wichtig. Ich brauche Menschen, die immer wieder meine Seite ansteuern und dort bleiben.

derStandard.at: Buzzfeed oder auch die Huffington Post investieren gerade viel Geld in Investigativredaktionen. Haben neue Medienunternehmen einfach mehr Mittel zur Verfügung, während klassische Redaktionen sparen müssen?

Coronel: "New York Times", "Wall Street Journal" und "Washington Post" haben immer noch die größeren Recherche-Teams. Und es gibt genug Skandale aufzudecken, sie nehmen sich gegenseitig nichts weg. Konkurrenz spornt dazu an, die bessere Geschichte zu haben. Früher war die Konkurrenz für klassische Medien das Fernsehen und Magazine, heute sind es eben neue Medienportale.

derStandard.at: In vielen repressiven Ländern leben Aufdeckerjournalisten in Gefahr. Wie können Sie besser geschützt werden?

Coronel: Darauf gibt es leider keine leichte Antwort. Sicherheitstrainings sind enorm wichtig: Journalisten müssen wissen,wie sie ihre Informationen verschlüsseln können. Internationaler Druck ist gut, hält aber keine Regime davon ab, Journalisten einzusperren oder zu töten, wie das derzeit etwa in China oder Mexiko der Fall ist. Und dennoch gibt es viele Journalisten, die sich nicht einschüchtern lassen. (Julia Herrnböck, derStandard.at, 31.1.2015)