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Drei Höhepunkte der Liveticker-Historie: das Fußball-WM-Spiel zwischen Deutschland und Brasilien, das unschön für den Gastgeber endete (7:1).

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Conchita Wurst löste nicht nur in Österreich Jubel aus, sondern auch auf derStandard.at. 15.590 Postings übrigens.

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Die Berichterstattung über die Tierschützerprozesse (im Bild: Martin Balluch) brachte vielen Usern die Rechtsprechung näher.

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Jetzt ist schon wieder etwas dabei zu passieren. Ein Ball oder eine Demo. Manchmal auch beides. Ein Prozess. Ein Skirennen, ein Fußballspiel oder ein Weltrekordversuch mit einer Dose, einem Raumanzug und viel heißer Luft.

Alle diese Ereignisse haben etwas gemeinsam: Sie entwickeln sich mit dem Fortlauf der Zeit, sie ändern ihren Fokus, müssen deshalb permanent begleitet, mit Bildern, Links und Zusatzinformationen versehen sowie kommentiert werden. 90 Minuten lang. Eine Oscar-Gala lang. Eine 15-stündige Gerichtsverhandlung lang, mit Urteilen um Mitternacht. Oder mehrere Song-Contest-Halbfinale und ein Finale lang, das Österreich mit Conchita Wurst eine würdige Siegerin, derStandard.at den zugriffsstärksten Livebericht aller bisherigen Zeiten und einen legendären abschließenden Kommentar bescherte: "Conchita, ich will ein Kind von dir!"

Seit 1998 wird auf derStandard.at das sogenannte Liveticker-Format verwendet: ein Artikel, der alle paar Minuten - wenn's sein muss, auch Sekunden - um einen aktuellen redaktionellen Eintrag erweitert und von den Usern kommentiert werden kann. Und danach am Ende, wenn das Urteil gesprochen, die Wahlnacht vorbei, die Demo zu Ende ist, als Zeitdokument im Archiv landet - meist garniert mit tausenden Postings derer, die schließlich via derStandard.at mittendrin gewesen sind, statt nur dabei.

"Quäl dich, du Sau!"

Bei Liveberichten der Sportredaktion sind die Poster traditionell stark vertreten: beim Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 etwa. Damals wurde jede Sekunde ein Posting abgeschickt. Und das bedeutet: Rushhour im Forum. Der Redakteur hat ein Auge am Fernsehgerät, das andere am Liveticker. Gleichzeitig scannt er die eingehenden Postings, kommuniziert mit den Usern. Zusatzaufgabe für den Liveberichterstatter: auf einem dritten Monitor Fotomaterial sichten, eine Auswahl treffen und veröffentlichen.

Geht dem User ob dieser Dreifachbelastung des Redakteurs alles ein wenig zu langsam, kann selbst der höflichste Echtzeitgenosse zum Beschwerdeführer mutieren. Getrieben von Neugierde, fordert er manchmal den bereits schwitzenden Redakteur zur flotteren Arbeit auf ("Es warat jetzt echt Zeit"). Ja, im User steckt mitunter ein kleiner Udo Bölts. "Quäl dich, du Sau!", rief der deutsche Radrennfahrer seinem Teamkapitän Jan Ullrich bei der Tour de France 1997 zu. Ein Jahr später fing derStandard.at mit der Liveberichterstattung an. Und wie seinerzeit der Radprofi war auch der Redakteur Hilfsmitteln nicht abgeneigt. Während die Pedalritter aber angeblich supersauber sind, schüttet sich der Redakteur nach wie vor Koffein in die Blutbahn. Das Epo des kleinen Mannes.

Freilich gibt es auch ruhigere Momente. Wenn sich Japan und die Côte d' Ivoire um drei Uhr morgens mitteleuropäischer Sommerzeit matchen, wird es familiär, geradezu kuschelig im Forum. Dann kommt die Community ins Plaudern, als säße sie nach einer langen Nacht gemeinsam im Taxi nach Hause. Der Redakteur gibt gewissermaßen den Fahrer - und hört sich immer wiederkehrende Geschichten an.

Tickern über Elsner

So kuschelig ist es für die Liveberichterstatterin aus dem Gerichtssaal nicht immer. Frühmorgens, wenn auf den Sicherheitscheck die ungewollte Tuchfühlung mit wildfremden Menschen folgt, natürlich schon. Wird sie wenig später in der anwachsenden Traube an Zufallsbekanntschaften in den Saal geschubst, zählt wie im Sport jede Sekunde. Wer keinen Platz am Fenster ergattert, ist der erste Verlierer. Je weiter weg, umso schlechter der Netzempfang.

Sind mehrere Liveberichterstatter im Raum, was seit einigen Jahren immer häufiger vorkommt, folgt der Kampf um die wenigen Steckdosen. Dann wird das Verlängerungskabel ausgepackt, der Laptop hochfahren. Ist der Vorsitzende Richter schlecht gelaunt, muss das Kabel wieder weg, weil "da fliegen die Leut' drüber". Dann ist die größte Hoffnung, dass der Akku bis zur ersten Verhandlungspause hält, sofern es eine gibt.

Seit 2007 berichtet derStandard.at auch aus Gerichtssälen live. Es begann mit dem Bawag-Prozess. Damals wurden noch kleine Texthäppchen - jeweils zwei, drei Absätze lang - per Mail in die Redaktion geschickt, wo sie in der Folge zu einer stetig wachsenden Nacherzählung zusammengeleimt wurden, mit dem jüngsten Häppchen stets obenauf. Am 4. Juli 2008, dem Tag der Urteilsverkündung, wurde die Ticker-Software der Sportberichterstattung erstmals auch im Gerichtssaal eingesetzt: Jeder Absatz, der im Saal geschrieben wurde, ging sofort online, ebenso die Postings. Sie kamen an diesem Tag ("9,5 Jahre Haft für Elsner! Fünf Jahre Haft für Zwettler!") zuhauf.

Schon sieben Jahre zuvor wurde der Sport-Ticker erstmals auch außerhalb des Sports eingesetzt. Die Wissenschaftsredaktion tickerte zum kontrollierten Absturz der russischen Raumstation Mir in den frühen Morgenstunden des 23. März 2001. Mittlerweile sind die Einsatzmöglichkeiten für den Liveticker praktisch nach oben offen. Events wie der Song Contest, die ORF-Sommergespräche oder die Oscar-Verleihung lassen sich sogar ganz bequem von zu Hause aus tickern, sofern das Fernsehgerät, der PC und die Kaffeemaschine laufen.

Ganz anders im Gerichtssaal. Wird dort im Namen der Republik Recht gesprochen, muss sich auch die Redakteurin erheben. Und weil es nicht in jedem Gerichtssaal Lesepulte gibt, muss dann mitunter mit nur einer Hand in die Welt hinausgetickert werden, wer mit einem Bein (Landesgericht) oder schon mit beiden Beinen (OGH) im Gefängnis steht.

König Fußball

Wird das Urteil von der Userschaft als gerecht empfunden, entschädigen viele grüne Stricherln für die vorhergehende Tortur: eine stundenlange, intensive, unromantische Zweierbeziehung mit dem Laptop. Gut zuhören, das Gehörte im Hirn sortieren, zusammenfassen, formulieren, tippen und wieder zuhören - so lautet die Jobdescription. Und: stets darauf gefasst sein, von einem Netzausfall lahmgelegt zu werden.

Zum Glück gibt es immer irgendwo im Netz Menschen, die gerade nichts Besseres zu tun haben, als jeden Eintrag mitzuverfolgen und zu kommentieren. Ohne sie wäre die Liveberichterstatterin nichts. Sie überbrücken Netzausfälle, Prozesspausen und Leerläufe. Sie spenden Trost, bieten mentale Unterstützung. Sie sind meistens humorvoll und dankbar, schicken sie doch hin und wieder Mannerschnitten und selbstgestaltete Kaffeetassen in die Redaktion.

Auch wenn vor allem Liveberichte aus dem Gerichtssaal regelmäßig neue Zugriffsrekorde aufstellen, von der schieren Zahl her betreibt die Sportredaktion die meisten Liveticker. Neben Skirennen ist der Fußball quasi das Kerngeschäft. Der Pausenreim in der Halbzeit ist schon liebgewordene Tradition: Die User vollenden einen vom Redakteur möglichst geschickt ausgewählten Halbsatz mit mehr oder weniger fantasievollen Endreimen. Der beste Dichter wird mit grünen Stricherln aufgewogen. Und den Redakteur freut's, dass die Bespaßung der User wieder einmal geglückt ist.

Am anderen Ende der Skala stehen Ereignisse wie das leicht überinszenierte Fallschirmsprung-Projekt Stratos. Bevor Felix Baumgartner 2012 mit Schallgeschwindigkeit Richtung Boden fiel, war der Erstversuch an den Wetterverhältnissen gescheitert.

Das Ziel war verfehlt, doch der Weg war offenbar Faszination genug. Geschlagene zehn Stunden war der Redakteur mit müden Augen vor dem Monitor gesessen, ehe er mit dehydrierter Zunge verheerende Bilanz zog: "120.000 Zugriffe. Und die Kapsel schwebt zwei Meter über dem Boden." (Maria Sterkl, Philip Bauer, Martin Putschögl, DER STANDARD, 31.1.2015)