Herrn Lynchs Gespür für den Schmäh: "Ich bin eh da, ihr könnt mir nichts tun!"

Foto: Rich Arden/ESPN Images

300 Fans werden die Super Bowl XLXI im PULS 4 NFL-Studio miterleben.

Foto: PULS4

Die beiden Conference Finals hätten nicht unterschiedlicher verlaufen können. Zu dem der AFC will ich eigentlich nicht mehr viel sagen. Indianapolis war das falsche Team, am falschen Ort, zur falschen Zeit und es gewann damit mit New England auch die richtige Mannschaft. Wie die Colts so weit kommen konnten, das sollte man Cincinnati und Denver fragen, denn in Foxborough sahen Andrew Luck und Kollegen wieder einmal wie Häschen vor einer Schlange aus. Offensiv komplett abgemeldet, stand man auch defensiv auf der Seife, als man, schon früh weidwund geschossen, sich in ein 7:45 Debakel ergab.

Indianapolis zeigte heuer in einigen Partien famose Leistungen, denen gegenüber stehen eben einige solche Aussetzer, wobei das Blackout im Conference Final schon einen negativen Höhepunkt darstellt. Das Auf- und Ab ist die leider einzige Konstante in Chuck Paganos Team, welches dringend ein Laufspiel und fast noch dringender eine Laufverteidigung braucht.

Siegchance: 1 Prozent

Das rechnete der Wettcomputer den Seattle Seahawks aus, als fünf Minuten vor Schluss Green Bay zwölf Punkte Vorsprung und, nach einer vierten Interception an Seattles Spielmacher Russell Wilson, auch den Ball hatte. Bis zu dem Zeitpunkt unterließen die Packers jedoch einiges, was jegliche Hoffnung der Gastgeber frühzeitig begraben hätte. Vor allem zu Beginn der Partie ging man fahrlässig mit Chancen um. Vorsprungs-Oberverwalter Mike McCarthy, dem man nicht so schnell Übermut vorwerfen kann, ließ bei kurzen vierten Versuchen jeweils seinen Kicker aufs Feld kommen. In einer Phase, in der die Anwesenheit der Seahawks nicht mal mehr von Geisterjägern zu spüren gewesen wäre, ließ man viele Punkte liegen. Am Ende sollten genau diese schmerzlich fehlen.

Viele Fans der Seahawks befanden sich beim Spielstand von 7:19 schon am Heimweg vom Stadion (und wurden auch nicht mehr zurück hinein gelassen), als Green Bay in seine Einzelteile zerbrach. Denn nach der Interception Nummer 4 passierte das Folgende: Punt GB, TD SEA, Onside Kick recovered von SEA, TD SEA, 2-Point-Conversion SEA und dann doch noch ein Fieldgoal von GB, womit es bei 22:22 in die Overtime ging. In der sorgte dann jener Mann, der zuvor vier Mal (bei allen vier Interceptions!) angespielt wurde, für die Entscheidung. Alle guten Dinge sind fünf, sagte sich Jermaine Kearse und Green Bay stand, ganz schön fassungslos, als Verlierer da.

Gott ist kein Footballfan

Russell Wilson machte kurz danach den lieben Gott für den Sieg verantwortlich (die vier Picks hat wohl der Teufel geschmissen), während ein geknickter Aaron Rodgers meinte, dass der (Gott) kein Footballfan sei und sie (die Packers) einfach schlecht gespielt und den Vorsprung zu lange nur verwaltetet haben, während Seattle seine kleine Chance perfekt genutzt und damit auch verdient gewonnen hat. Immer diese Atheisten mit ihren Thesen!

Unterm Strich war das eine Niederlage für Green Bay, an der sie wohl noch sehr lange zu kauen haben. McCarthys Record hin und her - die Nummer geht fast alleine auf sein Konto und so vernahm man auch vereinzelt Stimmen, die einen Rauswurf des Cheftrainers forderten. Ich gebe meine soweit dazu, als das Playcalling in einem Playoff-Spiel nachweislich nicht zu den Stärken des Mannes gehört. Das Spiel hätte Green Bay gewinnen müssen. Viel Konjunktiv, aber es ist so.

Allerdings glaube ich war es für das Finale besser, dass es am Ende doch Seattle noch geschafft hat, denn die Seahawks standen heuer sonst nie derartig neben sich wie die dreieinhalb Viertel des Conference Finals. Der Herrgott wird ihnen auch in der Super Bowl nicht zur Seite stehen, aber sie sehen aus wie eine Mannschaft, die New England echte Schwierigkeiten bereiten kann. Umgekehrt sehen die Patriots nicht aus wie die Denver Broncos des Vorjahres, die zur Halbzeit sagen: Na gut, schauen wir uns noch die Peppers vom Mars an, dann fahren wir halt nach Hause. Das Matchup jetzt, das könnte und sollte eine richtig gute Super Bowl ergeben, auch wenn die Hater-Percentage in die Höhe schoss. Viele wollen zwei Verlierer, was programmatisch auszuschließen ist.

"Tuck-Rule" und "Spygate"

Die New England Patriots sind in einigen Teilen der Welt so beliebt wie die Bayern in München, in anderen dafür wie selbige in Nordrhein-Westfalen: Man liebt sie, oder man kann sie einfach überhaupt nicht leiden. Und das hat seine Gründe nicht nur im anhaltenden Erfolg - seit 2001 gewann New England zwölf Mal seine Division, sechs Mal die Conference und drei Mal die Super Bowl - sondern auch bei ihrer Geschichte.

Begonnen hat alles am 19. Jänner 2002 als man, so sagen es u.a. (aber nicht nur) die Patriots-Verschwörungstheoretiker, den Oakland Raiders den Weg zu ihrem vierten Super Bowl-Titel versperrte bzw. den Patriots selbigen zu ihrem ersten ebnete. Ein dann eben nicht Fumble von Tom Brady wurde, via der unsäglichen und 2013 abgeschafften Tuck-Rule, zur Incompletion. Die Entscheidung kann man so oder so sehen, da Brady zwar einen Wurf andeutete, den Ball aber verlor, weil Charles Woodson ihn ihm aus der Hand schlug. Der ehemalige Ravens Linebacker und ESPN's liebstes Enfant Terrible, Ray Lewis, selbst gerade keine unumstrittene Figur, meinte zuletzt gar, dass niemand Tom Brady kennen würde, gäbe es diese Regel nicht. Lewis nahm das freilich alles gleich wieder zurück, weil das sich sofortige Entschuldigen für etwas was man eigentlich lustvoll sagte, das gehört zum Business der neuen, voll unartigen Kicherkinder schließlich dazu.

So richtig unschön wurde es aber erst im Jahr 2007, als New England des sportlichen Betrugs überführt wurde. Sie filmten heimlich Signale der Coaches ihrer Gegner, um deren Defense zu dechiffrieren, was als "Spygate" in die jüngste NFL-Geschichte einging. Mehr als ein No-Go, zog die Schummelei für damalige Verhältnisse durchaus heftige Konsequenzen nach sich. 500.000 Dollar und damit das finanzielle Maximum an Strafe für den Auftraggeber Bill Belichick, weitere 250.000 für die Franchise und der Abzug des Erstrunden Picks im NFL Draft 2008. Neue Spitznamen wurden vergeben: "Belicheat" und "Cheatriots" sind seither in aller Munde. Gemessen an jüngsten Ereignissen war das aber fast noch ein Klacks. New Orleans Head Coach Sean Peyton wurde im Zuge des Kopfgeld-Skandals für ein ganzes Jahr gesperrt, erst vor Tagen drohte die Liga dem Seahawks Runningback Marshawn Lynch die selbe Geldstrafe wie Belichick an, sollte er seine Medientermine nicht wahrnehmen (!). Lynch setzt sich seit einiger Zeit einsilbig vor die Presse und wiederholt Sätze wie: "I'm here, so i won't get fined." Auch das ist bereits NFL-Geschichte.

Wer ließ die Luft aus den Bällen?

So weit, so gut. Beim Conference Final der Patriots gegen die Indianapolis Colts stellten Offizielle in der Halbzeit fest, dass elf der zwölf Bälle der Patriots nicht den Regeln entsprachen. (Anmerkung: Ja, auch in der NFL spielt jedes Team mit seinen eigenen Bällen) Es war zu wenig Luft in ihnen, was bei der ersten Überprüfung vor dem Spiel nicht der Fall war. Irgendjemand (oder irgendwas) hat also, zwischen Kickoff und Halbzeit, Luft aus den Bällen gelassen. Ein schwächer aufgeblasener Ball hat den Vorteil, dass man ihn besser im Griff hat bzw. auch fester beim Lauf einklemmen kann.

Bislang ist nicht geklärt, wer oder was diese "Deflation" bewirkt hat und das wird sich auch vor der Super Bowl nicht mehr klären lassen. Die NFL untersucht die Sache, die manche jetzt schon zum "Deflate-Gate" machen wollen. New England weist jegliche Schuld kategorisch von sich, will sich damit gar nicht mehr auseinandersetzen. Es könnte ja auch das Wetter gewesen sein (welches die Colts Bälle verschonte?), zuletzt hatte man einen Equipment Manager am Kieker. Genaues aber weiss man derzeit nicht. Teambesitzer Robert Kraft ließ ausrichten, dass er sich eine Entschuldigung seitens der Liga erwarte, wenn sich dann herausstellt, dass die Seinen völlig unschuldig sind. Für den Commissioner Roger Goodell bedeutet die Ansage Krafts, dass er bereits an der Syntax einer solchen zu feilen beginnen kann. Was niemanden in dem Drama sympathischer macht.

Das Problem der Patriots ist halt ihre kontaminierte Vorgeschichte. Wer ein Mal betrügt, dem glaubt man eben nicht. Dieses Glaubwürdigkeitsdefizit führte zu einer schnellen Vorverurteilung, die natürlich auch kein untrügliches Zeichen für Fairness ist.

Was bei der Debatte für mich gar kein Argument ist, ist die Tatsache, dass die Luftgeschichte mit dem Ausgang des Spiels nichts zu tun gehabt haben kann. Das hieße zum einen ja, dass schummeln erlaubt wäre, so lange der Gegner schwach genug ist um ihn auch legal zu besiegen, zum anderen lungert da ein Worst Case Szenario im Hintergrund. Es gibt Gerüchte wonach der Tipp an die Schiedsrichter, zur Halbzeit doch mal die Bälle der Patriots zu checken, von den Baltimore Ravens kam, die nur ganz knapp im Divisional Playoff den Patriots unterlegen waren. Baltimore fühlt sich gegenüber Boston allerdings fast chronisch benachteiligt, deren Head Coach zuletzt eine Regelkundeauffrischung von Tom Brady selbst bekam, was die Causa berechtigte und nicht berechtigte Passempfänger betraf. Das war für John Harbaugh auch ein wenig peinlich. Andererseits ist es zumindest ein Beleg dafür, dass New England schon immer bereit war einen Schritt weiter zu gehen als der Rest, um Regeln auf ihre Dehnbarkeit soweit zu testen, so auch schon manche Sollbruchstelle eingebaut werden musste. Was immer noch nicht Schuld oder Unschuld in der Sache belegen kann.

Das "biedere" Spiel

Ich komme noch einmal auf das eigentlich Wesentliche, das Spiel selbst zu sprechen. Ich erwarte mir ein biederes Spiel, was nicht heisst, dass es ein langweiliges werden wird. Ganz im Gegenteil, sehe ich zwei Systeme, die sich dreieinhalb Stunden samt ihren Stärken und Mankos messen werden. Das ist aufregend genug, sind es doch die zwei besten dieser Saison. Ich meine nur, dass man wenig Überraschendes am Sonntag zu sehen bekommen wird.

Wenn Seattle den Ball hat, wird man die Read Option in allen Varianten serviert bekommen. Wilson und Lynch werden diese Offense tragen. Nach der Erfahrung der Seahawks gegen Green Bay ist es nur schwer vorstellbar, dass man Ball Protection weiterhin klein schreibt. Noch dazu wartet auf der anderen Seite u.a. ein Darrelle Revis nur drauf, sich in einer Super Bowl ein Denkmal zu setzen. Bei allem Respekt für Green Bay, aber zwei Scores Rückstand, der Ball beim Gegner und fünf Minuten auf der Uhr, das ist gegen New England gleichbedeutend mit einer Niederlage. Die Patriots sind nicht die Packers, da käme dann auch der Jehova aus Washington viel zu spät in Arizona an.

Darauf kann und wird sich New Englands Defense auch vorbereiten. Was nachweislich nicht geht ist, die Agenden und Wege eines Russell Wilson stets zu kennen und Lynch ist erst am Boden wenn er am Boden ist. So einfach das Muster - so dick die Wolle.

Wenn New England den Ball hat, dann wird die Sache vielleicht gar nicht so viel anders aussehen wie im Falle der Seahawks. Brady steht der schnellsten, smartesten und damit besten Defense der letzten zwei Jahre gegenüber. Kam Chancellor, mit 1.91m und 105kg ein Monster von einem Safety, las den Quarterbacks zuletzt von den Augen ab, welches Ticket sie am Schalter gebucht hatten. Ich sehe daher Blount-2-3, anbei der Screen, Gronk (aus der Slot) in die Mitte, Edelman aus selbiger oder dem Backfield über die Außenseite.

Den zweiten Pass einer Mannschaft, der sich mehr als 20 Yards in der Luft befindet, den wird man frühestens Mitte des dritten Viertels sehen.

Das jetzt niedergeschrieben, wird die Super Bowl XLIX sicher ein noch nie dagewesenes Big Play-Spektakel mit 800 Yards Passing und einem dutzend Receiving Touchdowns, was mich zwar wundern, aber auch freuen würde.

Die Super Bowl im TV

Die sieht man am kommenden Sonntag im NFL Gamepass, auf Sport1 US und natürlich auch auf Puls 4 und im Webstream. Wir beginnen mit der Vorberichterstattung bereits um 23:15 Uhr. Im Studio begrüsst Christian Nehiba die Herren Pasha Asiladab, Shuan Fatah und Bojan Savicevic. 300 geladene Sportfreunde- und freundinnen im Puls 4 HQ werden dann ab 00:30 Uhr das letzte Spiel der NFL Saison 2014 erleben, welches Michael Eschlböck und ich kommentieren werden. Schönes Spiel und vielleicht bis Sonntagnacht

Ihr Walter Reiterer

puls4austria

(derStandard.at, 31.1.2015)