Habib Essid steht an der Spitze der tunesischen Regierung.

Alt. Neu und modern. Traditionell, Politiker. Technokrat. Wenn es um jenen Mann geht, der künftig Tunesiens politische Geschicke leiten soll, fallen alle möglichen Urteile. Der 65-jährige Agrarspezialist Habib Essid sollte am Mittwoch sein Amt antreten. Seine Koalition aus der säkularen Nidaa Tounes, der er nicht angehört, den Islamisten von der Ennahda und drei kleinen Parteien hat eine breite Mehrheit.

"Wir haben Essid ausgewählt, weil er unabhängig ist und etwas von Sicherheit und Wirtschaft versteht", erklärt ein Sprecher von Nidaa Tounes, warum die Aufgabe, die Regierung zu bilden und ihr vorzustehen, nach dem Sieg der Partei im Herbst Essid zufiel. Jetzt soll er das Wachstum steigern, die Arbeitslosigkeit senken und die Terroristen im Landesinneren bezwingen.

Essid gehört zum engen Kreis um den Staatspräsidenten und Gründer von Nidaa Tounes, Béji Caïd Essebsi (88). Sie kennen einander aus alten Zeiten in der Staatspartei RCD, die nach dem Sturz des langjährigen Diktators Zine al-Abidine Ben Ali im Jänner 2011 aufgelöst wurde. Essid blickt auf eine lange Karriere in unterschiedlichen Ministerien zurück. Ausgebildet in Tunesien und den USA, war er rechte Hand des Landwirtschaftsministers und später (1997-2001) Kabinettschef im Innenministerium. Es waren mit die dunkelsten Jahre der Ben-Ali-Diktatur.

Umso mehr verwunderte es, dass er nach der Revolution als Innenminister einer der Übergangsregierungen und schließlich als Sicherheitsberater der ersten frei gewählten Regierung der Ennahda in die Politik zurückkehrte. Waren es doch die Islamisten, die unter Ben Alis harter Hand am meisten leiden mussten.

Essid stellt sich gern als Technokrat dar. Er werde für alle Tunesier regieren, sagt der verheiratete Vater dreier Kinder. Er bewies bei der Regierungsbildung Geschick, Widersprüche zu überwinden, und überzeugte säkulare und religiöse Politiker, gemeinsam zu agieren.

Viele der Nidaa-Tounes-Wähler sehen diesen Pakt nicht gerne. Und bei der Opposition und in der Zivilgesellschaft stößt Essid auf offene Ablehnung. "Es ist die falsche Nachricht an die Menschen, die einen echten Bruch mit dem alten Regime erwarteten", bewertet der Chef der linken Oppositionspartei Front Populaire, Hamma Hammami, die Wahl Essids. "Ein schlechtes Zeichen für den Übergang zur Demokratie", beschwert sich auch der bekannte Blogger Mohamed Ali Charmi. (Reiner Wandler, DER STANDARD, 5.2.2015)