Grünen-Integrationsbeauftragte Alev Korun plädiert für Distanz- und Angstabbau zwischen Mehrheitsgesellschaft und Muslimen - mittels Offenheit auf beiden Seiten.

Standard: Sie haben sich vor einigen Wochen im Standard mit einer Islamkritik an die Öffentlichkeit gewandt. Muslime in Österreich müssten "heraus aus der Komfortzone", schrieben Sie. Was konkret muss geschehen?

Korun: Ich versuche seit Jahren in muslimischen Communities, also türkischen, kurdischen, arabischen und multiethnischen Gruppen und Moscheevereinen, auf Öffnung hinzuarbeiten. Das ist langwierig, weil diese Öffnung von unten kommen muss. Inzwischen gibt es aber intensive Diskussionen, etwa über die steigenden Scheidungszahlen unter Muslimen.

Standard: Ist das ein allgemeines Phänomen, auch in muslimischen religiös-konservativen Kreisen?

Korun: Ja – und es ist ein Phänomen der Angleichung an den Lebensstil der Mehrheitsgesellschaft. In der ersten Einwanderergeneration war es sehr unüblich, dass sich eine muslimische Frau, die mit ihrer Ehe unzufrieden war, scheiden ließ, jetzt hingegen drängen viele muslimische Frauen in die Unabhängigkeit: ein Zeichen zunehmender Säkularisierung, wie auch Paul Zulehner in seinem neuen Buch Verbuntung schreibt.

Standard: Wie äußert sich diese Säkularisierung in den Communities noch?

Korun: Es wird sehr viel über Identitätsfragen gesprochen: Was es heißt, Muslim oder Muslimin im Europa des 21. Jahrhunderts zu sein. Hier herrscht oft die Ansicht vor, dass man sich zwar integrieren, aber nicht assimilieren wolle, weil man sonst die eigene Identität verliere. Ich wende bei solchen Diskussionen seit Jahren ein, dass die eigene Identität nicht in Stein gemeißelt ist. Sie wandelt sich ständig, bei Muslimen ebenso wie in der Mehrheitsgesellschaft.

Standard: Da scheinen beiseitig große Ängste zu herrschen.

Korun: Durchaus. Angehörige der Mehrheitsgesellschaft fürchten die steigende Zahl der Muslime, oder dass Österreich ein muslimisches Land werden könne – während sich viele Muslime fragen, ob sie ihre Religion aufgeben müssen, um Teil der österreichischen Gesellschaft zu sein. Gegen derlei Ängste, vor dem Verlust der eigenen kulturellen oder religiösen Identität, so als würde diese aufgesaugt, hilft nur die Auseinandersetzung mit dem jeweils anderen. Man muss beiden Seiten die Furcht nehmen.

Standard: In Diskussionen um innerreligiöse Ursachen von Gewaltbereitschaft bei Muslimen wird vorgebracht, dass gewaltbefürwortende Texte wortwörtlich genommen werden. Was dagegen tun?

Korun: Wie in anderen Religionen auch ist der Knackpunkt die Exegese. Im englischsprachigem Raum etwa gibt es eine Reihe muslimischer feministischer Theologinnen, die Neuinterpretationen vorgelegt haben – übrigens auch jene, dass im Koran nirgendwo eine Verhüllungsvorschrift zu finden ist.

Standard: Warum weiß die nicht-muslimische Öffentlichkeit von diesen Diskussionen so wenig?

Korun: Weil der Austauch zwischen den Communities und der Mehrheitsgesellschaft noch stark ausbaufähig ist und wegen des Blickes der Medien auf die Muslime. Wenn zu Artikeln reflexartig kopftuchtragende Frauen gezeigt werden oder Betende, die sich gerade zu Boden beugen, so suggeriert das, dass Muslime auf den ersten Blick erkennbar sind: eine Missachtung der Vielfalt.

Standard: Das würde heißen, dass die österreichische Mehrheitsgesellschaft die Muslime im Land gar nicht wirklich kennt. Was bedeutet das in Hinblick auf wirksame Prävention gegen islamistische Radikalisierungen?

Korun: Gleichzeitig wissen Muslime auch über die Mehrheitsreligion auch wenig. Das bedeutet, dass es unbedingt einen Austausch braucht, damit ein neues, gemeinsames Wir entstehen kann. Terroranschläge wie jene in Paris sind dabei das Schlimmste was passieren kann, denn sie fördern das Reden über "Wir im Westen im Gegensatz zu den Muslimen".

Standard: Im Rahmen des 290 Millionen Euro umfassenden Sicherheitspakets der Bundesregierung stehen für Präventionsarbeit zwölf Millionen Euro zur Verfügung. Wie finden Sie das?

Korun: Dass das viel zu wenig ist – wie wenig, zeigt ein Vergleich: In Österreich standen 2008 1,3 Millionen Euro Bundesmittel für Deutschkurse zur Verfügung. Dänemark, das in etwa gleich viele Einwohner hat, gab für Dänischkurse 2008 120 Millionen Euro aus. Natürlich entscheiden Sprachkenntnisse nicht über die Radikalisierung Einzelner, aber sie sind ein wichtiger Puzzlestein.

Standard: Was bräuchte es noch?

Korun: Ein bundesweit flächendeckendes Beratungsangebot für Angehörige potenziell Radikalisierter: Die jetzt gegründete Stelle kann den Bedarf nicht decken. In den Schulen muss politische Bildung ein Pflichtfach sein. Und vor allem braucht es dringend Burschenprojekte mit positiven Vorbildern für heranwachsende junge Männer..

Standard: Warum vor allem Burschenprojekte?

Korun:Weil in den muslimischen Communities die Frauen die Vorreiterinnen und Profiteurinnen des modernen Wertewandels sind, während junge muslimische Männer Macht abgeben müssen. Ihnen gilt es, zu vermitteln, dass auch sie etwas zu gewinnen haben, wenn sie traditionelle Autorität abgeben. Sie können dann freier leben. Ich glaube aber, dass in den muslimischen Communities nach den Pariser Attacken die Sensibilität gestiegen ist. Bis vor Kurzem hieß es oft, bevor unser Bursche drogenabhängig wird, soll er am Wochenende in den Korankurs gehen: Wenn er religiös wird, kann nichts schiefgehen.

Standard: Der Korankurs als Gegenmodell zu den Versuchungen des Westens: junge Frauen, Alkohol, die westliche Populärkultur?

Korun: Oft durchaus. Inzwischen jedoch hat es in einer Reihe muslimischer Familien ein böses Erwachen gegeben, weil ihre Söhne nach Syrien in den Krieg gezogen sind.

Standard: Was genau hat das mit Freizeitangeboten zu tun?

Korun: Fakt ist, dass überall, wo es bei Freizeitangeboten für Kinder und Jugendliche Lücken gibt, in vergangenen Jahren diverse Moscheen Angebote gemacht haben. Sie bieten Korankurse oder andere Freizeitbetätigungen an – wobei ich das nicht in Bausch und Bogen verurteilen möchte. Doch es fehlen Alternativen, also die Wahlfreiheit. Derzeit geben manche muslimische Eltern ihre Kinder am Freitag in Korankursen ab und holen sie erst Sonntagabend zurück. Das betrifft vor allem Schulkinder. Eine Bekannte von mir, eine aufgeklärte Muslimin, arbeitet als Lesepatin für muslimische Kinder. Sie erzählte mir, dass sie mit ihnen ins Theater gegangen sei und die Kinder mit großen Augen erstmals eine andere Welt gesehen haben. Für viele dieser Kinder war sie die erste Person, die gleichzeitig Muslimin und eine moderne aufgeklärte Frau ist. (Irene Brickner, DER STANDARD, 14.2.2015)