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In der aktuellen Diskussion ums Impfen läuft etwas schief.

Foto: dpa/Patrick Seeger

Was die aktuelle Diskussion um das Impfen wieder einmal offenbart, ist vor allem die Unverhältnismäßigkeit, mit der sie geführt wird. Mir macht weniger das Heraufbeschwören von Weltuntergangsfantasien in Anbetracht nicht geimpfter Menschen Sorge als die Tonalität und Radikalität, mit der auch dieser Diskurs in eine gehässige Wortschlacht verwandelt wird – stark befeuert von den vielen kampferprobten Weisen in den sozialen Netzwerken.

Und es gilt: Je größer sich die Menschenmasse im Besitz der unwiderlegbaren Deutungshoheit wähnt, desto mehr Dynamik bekommt das Prinzip der gnadenlosen pauschalen Verurteilung, inklusive Konsequenz: Alle subversiven Skeptiker rein in einen Sack, zubinden, Stöcke heraus, und dann unter selbstgefälligem Gejohle ordentlich draufschlagen. Bis sie hoffentlich endlich still sind.

Das löst in mir, einem bis dato schweigsamen Beobachter, seit Tagen ein derart unbehagliches Gefühl aus, dass ich fast schon justament und gegen meine Überzeugung zum Impfgegner werden will. Zumindest versuche ich aber immer eines: Menschen zu verstehen. Um in weiterer Folge in aller empathischen Ruhe und Konzentration den Versuch zu unternehmen, die vielen Grautöne zu erkennen. Die es auch im Falle des Impfens zwischen dem Schwarz und dem Weiß, das uns derzeit brüllend um die Ohren fliegt, gibt. Geben muss.

Schubladisierung und Instrumentalisierung

Also der Reihe nach. Ich möchte gerne mit den ausgewiesenen Impfgegnern beginnen. Das sind rund vier Prozent unserer Gesellschaft, und es handelt sich bei ihnen um jene Menschen, die von den Besitzern der Wahrheit als gefährliche Wahnsinnige, irrationale Witzfiguren und/oder rücksichtslose Volksschädlinge bezeichnet werden. Damit werden zumindest in der Diktion klare Verhältnisse geschaffen. Und so eine Schubladisierung fällt natürlich umso leichter, als tatsächlich eine Vielzahl von vernünftigen Argumenten für das Impfen als Turbo-Boost gegen das ignorant Böse eingesetzt werden können. Wenn es sein muss, auch unter zynischer Instrumentalisierung eines soeben an Masern gestorbenen Kindes, dessen bedrückende Story wie eine Mahnmal-Trophäe herumgereicht wird.

Da wirbeln die Statistiken und Wahrscheinlichkeiten nur so durch die Gegend, dass jeder Impfgegner für sein Handeln sofort strafweise vom Blitz getroffen werden müsste. Dabei könnte man sich – so schwer das einer auf Hysterisierung getrimmten Gemeinschaft auch fallen mag – ernsthaft überlegen, warum es gelegentlich ist, wie es ist, und zwar ohne den Generalverdacht unheilbarer Geisteskrankheiten.

Dramatischer Einzelfall

Bettina L. beispielsweise wurde Mutter eines Buben und musste mitansehen, wie dieser wenige Stunden nach einer Sechsfachimpfung zu fiebern, zu zucken und zu krampfen begann. Heute – vier Jahre und einen enormen Leidensweg später – gilt für das Kind: spastisches Symptombild. Als – nach zahllosen hart erkämpften medizinischen Gutachten – anerkannter Impfschaden. Eine (hier sehr verkürzte) dramatische Geschichte, zweifelsohne. Aber selbstverständlich die tragische Ausnahme. Mehr noch: Wer das prozentuelle Gefahrenpotenzial von geimpften und nicht geimpften Kindern zum Vergleich heranzieht, sollte unbedingt zu der Erkenntnis gelangen, dass laut Risikomanagement auch für Bettina L. klar sein müsste: Impfen ist heutzutage alternativlos.

Schlafraubende Schuldgefühle

War es ja auch. Aber plötzlich ist es das eben nicht mehr. Denn als Bettina L. ihr zweites Kind zur Welt brachte, war für sie eines klar: keine Impfung! Als Basis für diese Entscheidung dienten die sehr persönlichen menschlichen Faktoren Betroffenheit, Unsicherheit, Angst, Traurigkeit, Wut, Verzweiflung. Sowie: Selbsthass, der therapeutisch behandelt werden musste. Denn das Schuldgefühl legte sich wie ein Dämon jeden Abend zu Bettina L. ins Bett und raubte ihr den Schlaf.

Nach einem solchen Schicksalsschlag so jemandem mit Statistik zu begegnen ist nicht nur grotesk. Sondern vor allem eine hoffnungslose Mission. Als würde man einem Menschen, der einen Flugzeugabsturz überlebt hat, ein erneutes Fliegen mit den vielen tausendfach belegten rationalen Argumenten der allergrößten Sicherheit schmackhaft machen wollen. Aber die Wahrheit ist wohl: 99 Prozent aller Überlebenden setzen nie wieder einen Fuß in ein Flugzeug.

Ist also Bettina L. tatsächlich eine gefährliche Wahnsinnige? Und ihre Verwandten, Bekannten und Freunde, die voller Anteilnahme auf den Schock der Erlebnisse zurückblicken und deshalb möglicherweise sogar zu Impfgegnern wurden – lauter gefährliche Wahnsinnige? Oder vielleicht doch eher Menschen mit einer ungewöhnlichen, besonderen, schmerzhaft prägenden Geschichte, die sich Respekt verdienen? Darüber darf man im Überschwang des Meinungsaustausches und auch in Kenntnis zahlreicher mehr als fragwürdiger Fundamentalisten schon auch einmal nachdenken.

Impfkritiker im Narreneck

Die zweite (und interessanterweise größte) Gruppe sind die sogenannten Impfkritiker (mehr als 50 Prozent). Und bis heute erschließt sich mir, einem großteils geimpften Menschen, nicht, warum auch diese mit einer solchen außergewöhnlich herablassenden Selbstverständlichkeit mehr oder weniger subtil ins Narreneck gedrängt werden. Warum ein Impfbefürworter und Impfkritiker nicht dieselbe Person sein kann.

Plötzlich soll es nur mehr eine einzige Wahrheit, einen einzigen gültigen Segen für die Menschheit, geben? Plötzlich soll Kritik an schulmedizinischen Automatismen – am besten auf Rezept – verstummen? Plötzlich werden dubiose Marktpraktiken und bedingungslose Geschäftemacherei als Gespenster von Verschwörungsfanatikern belächelt? Plötzlich hat es noch niemals verschwiegene Studien, vertuschte Entwicklungen, verharmloste Nebenwirkungen gegeben? Und jeder, der sich, und sei es nur in einem Nebensatz, vorsichtig kritisch zu dogmatisch verschriebenen Allheil-Mechanismen äußert, verschwindet ruckzuck als bemitleidenswerter Chemtrail-Heini im Sack.

Kritiker auf Tauchstation

Sehr komisch ist das. Absurd mitunter. Sonst ist immer und überall jede Kritik erwünscht, nein, gefordert. Alles muss bis ins letzte Detail beleuchtet werden, der Investigativjournalismus scheint sich mehr denn je selbst zur vierten Macht im Staat zu erheben. Aber wenn uns die Mediziner, Pharmariesen und Medien mit Todesfetisch die Grippe-Panik und den dazugehörenden Impf-Alarmismus in die Hirne spülen, dann gehen die Aufdecker auf Tauchstation, und dann sollen sich alle getrost ruhig verhalten und nur keine Zweifel anmelden. Nicht einmal dann, wenn die Menschen trotz der Impfungen wie die Fliegen umfallen und grippig darniederliegen. Dann war es halt ein anderer Virusstamm, so what? Die Natur ist ein Luder. Das Geld ist aber trotzdem verdient, und ein bisserl lindernd wirkt die Impfung ja so oder so. Ganz ehrlich: Wer da nicht den geringsten Hang zur kritischen Auseinandersetzung entwickelt, braucht möglicherweise eine Impfung gegen Verblendung ... o.k., das war jetzt polemisch, ich will ja sachlich bleiben.

Hokuspokus und Voodoo

Denn ich will nicht so sein wie jene Alles-Durchschauer, die jede Form der alternativen Medizin in die Kategorie "jenseitiger Hokuspokus" und jede Erkenntnis aus der Naturheilkunde als "Voodoo aus einer fernen Welt ohne Zivilisation" einordnen. Die als wissenschaftlich fundierte Abgrenzung lieber den tausendsten Globuli-Witz raushauen, als ob die ohnehin umstrittene Homöopathie die einzige Abkehr von der Schulmedizin darstellt. Die jede Hinwendung zu intensivem Körperbewusstsein, jeden Glauben an selbstheilende Kräfte und jeden Verzicht auf ein reflexartiges Delegieren an die Götter in Weiß als Vertrottelung desavouieren. Die mit Vorliebe jedes Recht auf Krankheit und jede Funktion des Krankseins mitleidig belächeln. Die lieber hundertmal zur Vorsorgeuntersuchung rennen, als sich nur ein Mal die Frage zu stellen: Wie gehe ich in diesem Leben mit mir um, und welche Auswirkungen hat das auf meinen Kopf und meinen Körper? Die also gegen jedes Wehwehchen Pulverln lagern, nur ganz sicher keines gegen die eigene Arroganz. Und: Ja eh, das ist natürlich auch sehr pauschalisierend. Die Tücke der Zuspitzung.

Die Gesundheitsapostel auf Facebook

Aber es ist doch witzig, dass man etwa auf Facebook nur einmal die Frage stellen muss, welche Geheimrezepte und von allerlei Omas überlieferte Hausmittel es gegen Erkältungen gibt. Um augenblicklich überhäuft zu werden von Tipps Marke "Kopfstand machen und sich die Wadeln mit Honig einschmieren" oder "Feingehackte Zwiebel in einen Mango-Hibiskus-Tee geben und knapp vor dem Trinken nach rechts umrühren". In diesem Zusammenhang ist uns als Genesungsidee nix zu blöd. Aber wehe, man äußert im gleichen Forum den vorsichtigen Verdacht, dass die aggressiven Frühjahrskampagnen zur Unverzichtbarkeit einer Auffrischung der Zeckenimpfung allenfalls ein Primärziel haben: Geld verdienen. Und zwar sehr viel Geld. Dann schnellen die Zeigefinger der Gesundheitsapostel in die Höhe, so flott kann man gar nicht die Löschtaste drucken.

Aber möglicherweise ist alles tatsächlich ganz anders. Man ist ja lernfähig. Und die Zeiten haben sich geändert. Möglicherweise ist es auch nur ein kurioses Gerücht, dass so viele Ärzte ihre eigenen Kinder nicht impfen lassen. Möglicherweise bin ich mit meinen Überlegungen zu den möglichen Gedankenwelten von Impfkritikern übersensibel und irre mich. Im Allgemeinen und im Speziellen. Aber selbst dann will ich als denkender, reflektierter und vor allem geimpfter Mensch trotzdem nicht wie ein kurzsichtiger, ungehöriger und engstirniger Idiot behandelt werden.

Lieber kluge Debatte statt im Rechthaber-Labyrinth

Lieber will ich in einer wichtigen Angelegenheit eine offene, ausgewogene, kluge Debatte mit den vielen guten Argumenten, die den enormen medizinischen Fortschritt für alle gut nachvollziehbar dokumentieren, erleben. Statt mich durch ein Rechthaber-Labyrinth hetzen zu lassen. Und noch lieber will ich in Anbetracht von 25 Prozent übergewichtigen, fettleibigen, adipösen österreichischen Kindern im Altern zwischen sieben und 14 Jahren über den aktuell so hochfrequentierten Begriff "verantwortungslose Eltern" diskutieren. Darüber, warum dramatisch falsche Ernährung und erschreckend zunehmender Bewegungsmangel offenbar keine Belehrungshysterie erzeugen.

Aber vermutlich sind sowohl die vielen kleinen Dickerln als auch die vielen großen Kranken, die aus den gleichen Gründen mehrheitlich an selbstverschuldeten Herz-Kreislauf-Gebrechen leiden (und sterben), zur allgemeinen Beruhigung dankenswerterweise vor allem eines: gegen Masern geimpft. (Michael Hufnagl, derStandard.at, 25.2.2015)