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Boris Nemzow bei einer Kundgebung im März des Vorjahres.

Foto: AP/Zemlianchenko

Moskau - Kurz vor einer geplanten Demonstration der russischen Opposition ist in Moskau einer der letzten Kritiker von Präsident Wladimir Putin erschossen worden. Boris Nemzow sei am späten Freitagabend über eine Brücke nahe des Kreml gegangen, als ihm ein Unbekannter vier Kugeln in den Rücken geschossen habe, sagte eine Sprecherin des russischen Innenministeriums.

Der 55-jährige frühere Vize-Regierungschef Nemzow war einer der profiliertesten Putin-Kritiker. Nur drei Stunden vor dem Attentat hatte er dem Staatschef im Radiosender Moskauer Echo erneut eine "unsinnige Aggression gegen die Ukraine" vorgeworfen, die die russische Wirtschaft in die Krise gestürzt habe. Das Interview wurde zu seinem politischen Vermächtnis.

Mögliches Fluchtauto

Die Ermittler haben Fernsehberichten zufolge möglicherweise das Fluchtauto der Täter gefunden. Der TV-Sender Rossija 24 zeigte das weiße Fahrzeug mit einem Nummernschild der russischen Teilrepublik Inguschetien, die im islamisch geprägten Konfliktgebiet Nordkaukasus liegt. Von den Tätern fehlt allerdings jede Spur.

Zuletzt hatten Ermittler als einen von mehreren Ermittlungsansätzen auch einen islamistischen Hintergrund für den Mord nicht ausgeschlossen. Nach Darstellung der obersten Ermittlungsbehörde in Moskau hatte es gegen Nemzow Drohungen gegeben, nachdem der Politiker sich im Zuge des Anschlags auf das Pariser Satiremagazin "Charlie Hebdo" solidarisch mit den Franzosen gezeigt hatte.

Nach einer großen Trauerkundgebung im Zentrum von Moskau am Sonntag soll der Sarg mit dem Leichnam Politikers im Sacharow-Menschenrechtszentrum aufgebahrt werden. Dort sollen die Menschen nach russisch-orthodoxem Brauch am Dienstag Abschied nehmen können von dem früheren Vize-Regierungschef. Anschließend ist die Beisetzung auf dem Moskauer Prominentenfriedhof Trojekurowo geplant.

Ermittler: Mord war "minutiös geplant"

Der Mord war nach ersten Angaben der Ermittler "minutiös geplant". Auch der Tatort sei sehr genau ausgewählt worden, erklärte das zuständige Ermittlungskomitee am Samstag. Den Ermittlern zufolge wurde gegen 23.15 aus einem Auto heraus auf Nemzow gefeuert, der mit einer "weiblichen Begleitung" zu seiner nahe gelegenen Wohnung gehen wollte. Das Paar befand sich auf der Großen Steinernen Brücke, die sich unmittelbar am Kreml befindet. Es sei "offensichtlich", dass die "Organisatoren und Ausführenden des Verbrechens" wussten, welchen Weg Nemzow nehmen würde, hieß es in der Erklärung weiter.

Nemzow wurde mehrmals in den Rücken geschossen. Der oder die Täter nutzten den Angaben der Ermittler zufolge offenbar eine Makarow-Pistole, wie sie vom russischen Militär und der Polizei verwendet wird. Am Tatort seien sechs Patronenhülsen verschiedener Hersteller gefunden worden, was die Fahndungsarbeit erschwere. Die Zeugen des Mordes wurden laut dem Komitee bereits vernommen.

Putin setzt sich für Aufklärung ein

Der russische Präsident Wladimir Putin hat den erschossenen Oppositionspolitiker für seine Verdienste gewürdigt und zugesichert, sich vehement für die Aufklärung des Verbrechens einzusetzen. "Boris Nemzow hat seine Spur in der Geschichte Russlands hinterlassen, in der Politik und im gesellschaftlichen Leben. Ihm fiel es zu, auf bedeutenden Posten in einer schwierigen Übergangszeit für unser Land zu arbeiten. Er hat immer direkt und ehrlich seine Position vertreten und seinen Standpunkt verteidigt", hieß es in dem Schreiben von Putin an die Mutter von Nemzow.

"Im 21. Jahrhundert, im Jahr 2015, wird ein Oppositionsführer unter den Mauern des Kreml getötet - das übersteigt die Vorstellungskraft", sagte Nemzows Weggefährte und Putins Ex-Ministerpräsident Michail Kasjanow. Nach seinen Worten musste Nemzow den Preis dafür zahlen, "dass er jahrelang dafür kämpfte, dass Russland ein freies und demokratisches Land wird". Die Tat erschütterte die russische Hauptstadt, noch in der Nacht legten viele Moskauer Blumen an der Brücke nieder.

Der Oppositionelle und ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow warf Putin über Twitter vor, "ein Klima des Hasses und der Gewalt" im In- und Ausland geschaffen zu haben. "Blutvergießen ist die Voraussetzung, um Loyalität zu beweisen", erklärte er weiter. "Dann gehört man dazu." Es sei daher egal, ob Putin selbst den Befehl zur Ermordung von Nemzow gegeben habe: "Es ist Putins Diktatur."

"Wachsender Hass auf Andersdenkende"

Der Oppositionspolitiker Wladimir Ryschkow warnte vor einem "wachsenden Hass auf Andersdenkende" in der Gesellschaft. "Ich bin schockiert", sagte er. Kein Oppositioneller könne sich heute sicher fühlen in dem Land, betont er.

Putin ließ seinen Sprecher Dmitri Peskow erklären, das "brutale Attentat" trage "die Zeichen eines Auftragsmordes" und sei eine "große Provokation". Regierungskritiker erinnerten daran, dass Nemzow immer wieder Drohungen erhalten, stets aber zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen abgelehnt habe.

Obama ruft zu transparenten Ermittlung auf

US-Präsident Barack Obama verurteilte den "brutalen und bösartigen Mord". "Wir rufen die russische Regierung zu einer raschen, überparteilichen und transparenten Ermittlung auf", hieß es in einer Erklärung des Weißen Hauses. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. "Nemzow war ein unermüdlicher Anwalt seines Landes", erklärte Obama weiter. "Er setzte sich dafür ein, dass seine Mitbürger die Rechte erhalten, die allen Menschen zustehen." Er habe Nemzow auch für dessen mutigen Kampf gegen die Korruption bewundert. Beide hätten sich 2009 in Moskau getroffen, als Obama Russland besuchte.

Auch der französische Präsident Francois Hollande verurteilte die Ermordung Nemzows scharf. Es handle sich um einen "abscheulichen Mord" an einem "mutigen und unermüdlichen Verteidiger der Demokratie", erklärte Hollande am Samstag in Paris. Zugleich würdigte er Nemzows "hartnäckigen" Kampf gegen die Korruption.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte den Mut Nemzows und zeigte sich laut Regierungssprecher Steffen Seibert "bestürzt über die hinterhältige Ermordung". Merkel fordere Putin auf, "zu gewährleisten, dass der Mord aufgeklärt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden".

Nemzow eine Brücke zwischen der Ukraine und Russland

Erschüttert zeigte sich auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Nemzow "war eine Brücke zwischen der Ukraine und Russland, und diese Brücke wurde von den Schüssen eines Mörders zerstört", schrieb er auf Facebook. "Ich glaube nicht, dass das Zufall war."

"Mit Empörung und tiefer Trauer habe ich von der brutalen Ermordung von Boris Nemzow erfahren", sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini laut einer in Brüssel veröffentlichten Stellungnahme. Sie nannte den Regierungskritiker Nemzow einen "starken Anwalt für eine moderne, blühende und demokratische Russische Föderation". Die EU erwarte, dass die russischen Behörden den Fall rasch und umfassend untersuchen.

Nemzow wurde zuletzt mit den Worten zitiert, Putin würde ihn womöglich gerne tot sehen wegen seiner Opposition gegen die russische Ukraine-Politik. Diese soll auch bei der geplanten Groß-Demonstration am Sonntag Thema sein. Der Westen hat bereits Sanktionen gegen Moskau verhängt. Dem Kreml wird vorgeworfen, die pro-russischen Separatisten im Osten der Ukraine zu unterstützen und das Nachbarland damit zu destabilisieren.

Gorbatschow: Keine voreiligen Schlüsse

Der Präsident des Europarates, Thorbjörn Jagland, erklärte, er sei "schockiert" von der Tat. Und Human Rights Watch verlangte wie Obama eine "überparteiliche Ermittlung".

Der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow warnte davor, voreilige Schlüsse zu ziehen. "Gewisse Kräfte werden die Tötung zu ihrem eigenen Vorteil nutzen", erklärte er. "Sie überlegen, wie sie Putin loswerden können."

Nemzow startete seine politische Laufbahn als Gouverneur der zentralrussischen Region Nischni Nowgorod. 1997 und 1998 war er unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin kurzzeitig Vize-Ministerpräsident und einer der Architekten der liberalen Wirtschaftsreformen. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 schickte ihn die liberale Partei Union der rechten Kräfte ins Rennen, er legte die Kandidatur aber vor der Wahl nieder.

Gefängnisaufenthalt im Vorjahr

Den Einschüchterungen durch die Behörden hatte er immer wieder getrotzt. Weil er gegen Haftstrafen für Putin-Gegner auf die Straße gegangen war, war er vor einem Jahr selbst zu mehreren Tagen Gefängnis verurteilt worden. Er gehörte zu den Oppositionellen, die für den 1. März zu einer Großdemonstration in einem Moskauer Vorort aufgerufen hatten. Ein Co-Organisator, Leonid Volkow, erklärte nach dem Attentat, die Demonstration sei abgesagt worden und werde durch einen Gedenkmarsch für Nemzow ersetzt, der am Sonntag durch die Innenstadt ziehen soll.

Mit seiner Kritik erreichte Nemzow vor allem Intellektuelle in Moskau, teilweise auch die Mittelschicht. Außerhalb der großen Städte hat die Opposition aber wenig Unterstützung. Nach Informationen des georgischen Ex-Präsidenten Micheil Saakaschwili arbeitete er zuletzt an einem Bericht über die russische Verstrickung in den Krieg in der Ostukraine. Er habe die russische Öffentlichkeit über die Lage informieren wollen, sagte Saakaschwili, der heute Poroschenko berät, dem US-Sender CNN. Die Ermordung Nemzows sei für ihn keine Überraschung. "Ich bin nur überrascht, dass er nicht schon früher getötet wurde." (APA, 28.2.2015)