Jahrelang wurde in Deutschland über das Für und Wider eines Mindestlohns debattiert, und fleißig haben manche Ökonomen den Teufel an die Wand gemalt. Arbeitsplätze würden verschwinden, Dienstleistungen unerschwinglich werden, der Mindestlohn wenigstens die deutsche Wirtschaft total ruinieren. Wie immer bei Prognosen weiß man erst im Nachhinein, ob sie eingetroffen sind. Dazu haben die deutschen Nachbarn nun die Gelegenheit.

Mit 1. Jänner hat die große Koalition zum ersten Mal im wiedervereinten Deutschland einen Mindestlohn eingeführt. 8,50 Euro pro Stunde, so viel sollen deutsche Arbeitnehmer mindestens verdienen, unabhängig von Beruf und Branche. Es gibt zahlreiche Ausnahmen, zum Beispiel für Langzeitarbeitslose, Praktikanten und Jugendliche. Einige Branchen haben bis 2016 Zeit, sich an die neuen gesetzlichen Vorgaben zu halten.

Mindestlöhne in Europa.

Die Mehrheit der Länder in der EU hat einen gesetzlich verankerten Mindestlohn. Jüngsten Zahlen von Eurostat zufolge liegt die Bandbreite zwischen 184 Euro monatlich in Bulgarien und 1.923 Euro in Luxemburg. In sechs EU-Staaten inklusive Österreich gibt es keinen Mindestlohn.

Vorreiter bei der Einführung des Mindestlohns war Luxemburg, schon seit 1944 gibt es ihn dort. Frankreich führte seine Lohnuntergrenze 1950 ein. Als jüngstes Mitglied der Mindestlohnrunde folgte mit Anfang des Jahres Deutschland. Monatlich verdient ein deutscher Arbeitnehmer nun brutto mindestens 1.473 Euro, zwölfmal im Jahr. Netto bleiben einem Mindestlohnbezieher in Deutschland 1.077 Euro monatlich übrig.

Kein Mindestlohn in Österreich

In Österreich gibt es keinen gesetzlich festgelegten Mindestlohn. 98 Prozent aller unselbstständig Beschäftigten in Österreich gehen aber einem Job mit Kollektivvertrag nach. Die übrigen zwei Prozent sind zum Beispiel Fotografinnen außerhalb Niederösterreichs oder Masseure und Kosmetiker.

Bei den deutschen Nachbarn ist die kollektivvertragliche Abdeckung bei weitem geringer als hierzulande. Karl Brenke, Volkswirt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, geht davon aus, dass circa 60 Prozent der Beschäftigten entweder unter einem Tarifvertrag oder einer betrieblichen Vereinbarung arbeiten. Für den Rest gelten individuelle Vereinbarungen. Der eingeführte Mindestlohn wird nun für alle gelten, unabhängig von Branche und Beruf.

Bis zu vier Millionen Deutsche könnten profitieren

Die Mindestverdienste betreffen laut Brenke 3,5 bis vier Millionen deutsche Arbeitnehmer. Für sie dürfte der Mindestlohn eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage bringen. Dürfte. Weil schon jetzt allerlei Tricksereien bekannt werden, wie Arbeitgeber die neuen Vorschriften umgehen. "Das sind alte Tricks, die kannte man schon vorher. Da dauert zum Beispiel am Bau eine Stunde nicht 60, sondern 70 oder 80 Minuten. Die Mehrarbeit wird natürlich nicht bezahlt", sagt Brenke. Eine andere Variante sei die Umwandlung eines Beschäftigungsverhältnisses in eine (Schein-)Selbstständigkeit.

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8,50 Euro: So viel ist in Deutschland seit 1. Jänner eine Stunde Arbeit wert. Mindestens.
Foto: APA/Patrick Pleul

Zur Kontrolle der Umsetzung der Mindestlohnregeln sollen 1.600 Beamte mehr eingesetzt werden, hat die deutsche Bundesregierung bereits angekündigt. Brenke glaubt, das sei eher ein symbolischer Akt, alle werde man nicht kontrollieren können. Es werde wohl eher zu einer Selbstkontrolle durch die Konkurrenz kommen: Wenn sich ein Trickser Wettbewerbsvorteile erschleicht, weil er den Mindestlohn umgeht, werden ihm eher die Konkurrenten auf die Zehen steigen als die Arbeitnehmer, die unter Umständen von dem Job abhängig sind, glaubt der Ökonom.

Gerade für jene Branchen, die auf niedrige Löhne quasi als Geschäftsmodell setzen, dürften die eingeführten Mindeststundensätze zum Problem werden. Dafür könnte der Kampf gegen Lohndumping auch den Wettbewerb ankurbeln, die höheren Löhne zu mehr Konsumausgaben führen, so lauten die gängigen Argumente für und gegen einen Mindestlohn.

De-facto-Mindestlohn

In Österreich kommt die Debatte um einen Mindestlohn immer wieder auf den Tisch. 2007 haben die Sozialpartner vereinbart, ein Vollzeitarbeitnehmer solle in Österreich nicht weniger als 1.000 Euro brutto (circa 850 Euro netto) im Monat verdienen. In den einzelnen Branchen gibt es Bestrebungen, diesen "De-facto-Mindestlohn" anzuheben. Aus der Gewerkschaft kommt zudem die Forderung, den Mindestverdienst auf 1.500 Euro anzuheben; im Handel zum Beispiel ist das seit dem Jahr 2014 der Fall, am Bau und bei den Metallern liegt er schon länger über 1.500 Euro.

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Bevor 2015 der Mindestlohn in Deutschland eingeführt wurde, wurde sehr lange darüber gestritten. Die Gewerkschaften forderten schon 2012 eine Einführung von Lohn-Untergrenzen.
Foto: AP/Daniel Maurer

Eine gesetzliche Verankerung eines Mindestlohns könnte Vorteile haben, sagt der Arbeitsmarktsoziologe Manfred Krenn vom Forschungsinstitut Forba. Vor allem für jene, die ganz unten auf der Einkommensskala stehen. Denn eine prozentuelle Erhöhung von Löhnen, wie sie derzeit in den Kollektivverträgen ausgehandelt wird, bevorzugt eigentlich immer jene, die ohnehin schon mehr verdienen, so Krenn.

Working Poor

Denn es ist immer noch so: Nicht immer reicht der Lohn zum Leben. Im Jahr 2013 waren in Österreich 291.000 Personen trotz Erwerbstätigkeit armutsgefährdet. In diese Gruppe fällt, wer weniger als zwei Drittel des Medianeinkommens verdient – 2013 lag dieses bei 25.767 Euro brutto im Jahr.

Aussagen über den Verdienst Einzelner lassen sich aber schwer treffen, weil nicht das individuelle Einkommen zur Berechnung herangezogen wird, sondern das Haushaltseinkommen. Ein gut verdienender Lebenspartner oder Transferleistungen wie Kindergeld und dergleichen fetten da schnell einmal das Haushaltseinkommen auf. Am zu geringen Lohn für die Arbeit ändert das jedoch nichts. Ist der Partner weg oder laufen die Transferleistungen aus, reicht das verdiente Geld oft nicht mehr zum Leben.

Geringe soziale Mobilität

Gegner des Mindestlohns führen gerne ins Treffen, es müsse einen Niedriglohnsektor geben, damit potenziell Ausgegrenzte wie Langzeitarbeitslose niederschwellig wieder in den Arbeitsprozess einsteigen und sich dann sukzessive auf der Lohnleiter nach oben arbeiten könnten. In der Realität sei diese soziale Mobilität kaum vorhanden. Die meisten blieben stecken, blieben Working Poor, sagt Krenn: "Man muss sich da immer die Frage stellen: Wer arbeitet zu so geringen Löhnen? Das sind meistens die, die keine andere Wahl haben." (Daniela Rom, derStandard.at, 4.3.2015)