Nur wenige Zentimeter lang ist das Fragment, das Forscher in Äthiopien ausgegraben haben - und doch ist das Bindeglied zwischen Australopithecus und modernem Menschen kaum zu überschätzen.

Foto: Brian Villmoare

Die Region in Äthiopien gilt als Wiege der Menschheit mit zahlreichen wichtigen Fundstellen.

Grafik: Erin DiMaggio

Tempe/Wien - So hochentwickelt der moderne Mensch heute auch erscheinen mag, er betrat die Bühne der Erdgeschichte erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit: Proconsul, der erste bekannte Vertreter der Menschenartigen, lebte vor weniger als 20 Millionen Jahren. Als unmittelbarer Vorfahre der Gattung Homo gilt Australopithecus, wenn auch diese Annahme unter Experten nicht ganz unumstritten ist.

Unklar ist vor allem, wann die ersten Homo-Vertreter aufgetreten sind. Die Fundlage deutet auf einen Zeitraum vor 2,5 bis drei Millionen Jahren hin, doch zum Leidwesen der Paläoanthropologen existieren aus dieser kritischen Phase der Menschwerdung frustrierend wenige, nur schlecht erhaltene Fossilien.

Entscheidende Hinweise könnte nun aber ein Kieferfragment mit der schmucklosen Bezeichnung LD 350-1 liefern. Das nur wenige Zentimeter große Knochenstück wurde im Jahr 2013 in der Ledi-Geraru-Region in Äthiopien entdeckt.

Aussehen und Beschaffenheit weisen es als Kiefer eines Angehörigen der Gattung Homo aus, doch erst die Datierung macht daraus einen Sensationsfund: Wie Forscher um William Kimbel von der Arizona State University in Tempe nun im Fachblatt Science berichten, ist LD 350-1 etwa 2,8 Millionen Jahre alt - und somit das älteste existierende Zeugnis unserer Gattung.

Primitiv und modern zugleich

Der Kiefer und die erhaltenen Backenzähne zeigen einige Charakteristika, in denen sie sich von dem nur 200.000 Jahre jüngeren Fossil "Lucy", einem noch recht affenähnlichen Australopithecus afarensis, unterscheiden. Die Gemeinsamkeiten mit den bisher frühesten, etwa 2,4 Millionen Jahre alten Homo-Vertretern seien eindeutig, so die Forscher. Doch es gibt auch Unterschiede: Insbesondere die primitivere Kinnlinie deutet auf eine nähere Verwandtschaft zu "Lucy" hin.

"Trotz großer Anstrengungen bei der Suche nach frühmenschlichen Überresten sind Fossilien aus der Homo-Linie, die älter sind als zwei Millionen Jahre, äußerst selten", erklärt Koautor Brian A. Villmoare von der University of Nevada, Las Vegas. "Umso aufregender ist daher dieser Einblick in die früheste Phase unserer Evolution."

Für die Wissenschafter stellt der Ledi-Fund demnach ein ausgezeichnetes Beispiel für ein Übergangsfossil dar, ein wichtiges Bindeglied, das die evolutionäre Lücke zwischen Australopithecus und den frühen Homo-Vertretern zu schließen hilft.

Der Kieferknochen war nicht das Einzige, was die Forscher in Ledi-Geraru aus dem Erdreich holten. Zahlreiche Fossilien von Antilopen, Elefanten, Flusspferden und Krokodilen zeichnen ein rudimentäres Bild der Welt, in der der frühe Homo lebte: Vermut- lich wies das offene Gras- und Buschland Ähnlichkeiten mit der heutigen Serengeti auf. Die Funde untermauern eine Theorie, wonach globale Klimaveränderungen vor 2,8 Millionen Jahren die Evolution von Homo vorangetrieben haben könnten.

Erin N. DiMaggio von der Pennsylvania State University bleibt jedoch vorsichtig: "Noch ist es zu früh, daraus tatsächlich zu schließen, dass ein globaler Klimawandel für die Entstehung der Gattung Homo verantwortlich war." (Thomas Bergmayr, DER STANDARD, 5.3.2015)