Was hat die Puppenstube in einer Ausstellung über Verbrechen und deren Aufklärung zu suchen? Auf den ersten Blick nichts. Der zweite Blick verrät, dass dieses vermeintliche Spielzeug nicht für Kinder gedacht ist. Denn hinter sorgsam genähten Gardinen, in einem ordentlich tapezierten und möblierten Zimmer liegt auf dem Sofa ein dicker Mann, die leere Schnapsflasche neben sich. Vor dem Leichnam hält ein treuer Hund Wache – alles im Mini-Format.

Bild nicht mehr verfügbar.

Nirgendwo anders können Besucher leichter Crime-Walks zum realen oder fiktiven Kriminal einer Stadt buchen. Sherlock Holmes’ Baker Street und Jack the Rippers Whitechapel sind nur zwei Schauplätze davon. Das Foto zeigt den angeblichen Lieblingspub von Jack the Ripper.

Die "Nußschalen-Studie eines unklaren Todesfalls" aus den 1940er-Jahren stellt ein Arbeitsmittel für Kriminaltechniker dar – und ist gleichzeitig ein Kunstwerk, wie so vieles in der neuen Ausstellung der Londoner Wellcome Collection "Forensik". Laut Untertitel sind Kurator James Peto und seine Kolleginnen mit diesem Großprojekt der "Anatomie des Verbrechens" auf der Spur.

Schnittstelle zur Fiktion

Auch touristisch wird der Kriminalgeschichte in London besonders gerne nachgegangen. Für kaum eine andere Metropole wurden so viele Reiseführer geschrieben, die ausschließlich zu historischen Tatorten führen, und nirgendwo anders können Besucher leichter Crime-Walks zum realen oder fiktiven Kriminal einer Stadt buchen. Sherlock Holmes’ Baker Street und Jack the Rippers Whitechapel sind nur zwei Schauplätze davon. Die Ausstellung der Wellcome Collection beschäftigt sich ebenso mit dieser Schnittstelle zwischen echten Verbrechen und ihrer literarischen Aufarbeitung, die vor allem im Viktorianischen London verbreitet war.

Über die Miniatur-Nachbildung eines Tatorts aus den 1940ern, die von Angestellten der Polizeibehörde in Baltimore gebastelt wurde, sagt Kuartor Peto: "Solche Modelle sind dort bis heute in Gebrauch. "Studenten sollen damit das genaue Beobachten lernen." Starb der Mann also wirklich an Alkoholvergiftung oder liegt ein verdeckter Mord vor?

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: SPNHF Bethlehem, New Hampshire_Photographer Ralph Smith

Sherlock Holmes, der berühmteste Detektiv der Kriminalgeschichte, wüsste die Antwort sofort, nicht umsonst ist er eine fiktive Figur. Die Ausstellungsmacher wollen hingegen die sehr viel mühsamere Wirklichkeit abbilden, der TV-Serien wie CSI oder Stumme Zeugen näher kommen. Vom Schauplatz übers Labor bis zum Gerichtssaal – die Aufklärung eines Verbrechens beruht mehr denn je auf Teamarbeit. Die Anfänge der systematischen Kriminaltechnik gehen aufs 19. Jahrhundert zurück, als Gerichtsmediziner zu Star-Experten wurden.

Natürlich kommt in der Ausstellung ein Schauplatz des Londoner East End vor, eine maßstabsgetreue Zeichnung von Mitre Square, an dem der Prostituierten-Mörder Jack the Ripper – mittlerweile fast zweifelsfrei identifiziert als Aaron Kosminski – eines seiner Opfer verstümmelte. Auch Doctor Hawley Crippen darf nicht fehlen, der wegen des Mordes an seiner Frau 1910 verurteilt und hingerichtet wurde. Der Prozess gegen ihn machte Bernard Spilsbury berühmt: Der Pathologe hatte das unter Crippens Haus vergrabene Opfer anhand einer Operationsnarbe identifiziert.

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Pariser Leichenschauhaus war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine wichtige Touristen-Attraktion der französischen Hauptstadt und fand Erwähnung in Reiseführern.

Solche historischen Fälle kontrastieren die Ausstellungsmacher mit eindringlicher zeitgenössischer Kunst, die sich mit dem Tod auseinandersetzt. 105 schmutzige Keramikfliesen, eine Installation der Mexikanerin Teresa Margolles, zeigen den Schauplatz des Mordes an Luis Miguel Suro, einem Freund der Künstlerin. Wem das noch nicht nahe genug geht, kann Margolles’ Klanginstallation lauschen: 66 Minuten lang dauert die Obduktion zweier Mordopfer. Es ist viel Wasserrauschen zu hören. Und natürlich das Kreischen der Knochensäge.

Pathologische Attraktion

Im nächsten Raum steht ein Seziertisch aus Keramik, ganz unkommentiert – und so nackt wie die Toten in der Gerichtsmedizin von Rotherhithe in Süd-London, die jahrzehntelang darauf obduziert wurden. Zuvor lagen sie auf Holztischen, wie in einer Ansicht des Pariser Leichenschauhauses abgebildet. Es war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine wichtige Touristen-Attraktion der französischen Hauptstadt und fand Erwähnung in Reiseführern. Erst später fürchteten die Verantwortlichen um die Moral der Gaffer.

Foto: Courtesy Zabludowicz Collection

Die Ausstellungsmacher in London erwarten keine Ohnmachtsanfälle, wie es sie bei anderen Shows schon gegeben hat – immerhin verfügt die Wellcome-Sammlung, die auf den Pharmafabrikanten Henry Wellcome zurückgeht, über recht drastische Ausstellungsstücke zu den meisten Krankheiten und Todesarten. Wird die Würde der Verstorbenen gewahrt? Eher im Gegenteil: Manche Exponate sind Versuchen gewidmet, den unbekannten Toten in einer Pathologie ausdrücklich ihre Würde zurückzugeben.

Um in die Ausstellung zu gelangen, muss man einen fast nachtschwarzen Gang passieren. Es ist die Dunkelheit, in der Ermittler und Kriminaltechniker häufig an Tatorten tappen, bis die ersten Spuren gesichert sind. Und ein Symbol für die Abgründe menschlicher Mordlust – in London und überall. (Sebastian Borger, DER STANDARD, 7.3.2015)