Offene Türen zum 650-Jahr-Jubiläum: Rektor Heinz Engl am Eingang der Universität Wien. Klein im Hintergrund sind die Rektorentafeln mit den eingemeißelten Namen sämtlicher Vorgänger Engls zu sehen.

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STANDARD: Die Universität Wien wird heuer 650 Jahre alt und das in den nächsten Monaten auch gehörig feiern. Wenn Sie auf diese lange Geschichte zurückblicken: Was waren die guten, was die schlechten Zeiten der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis?

Engl: Eine erste Blütezeit gab es schon relativ kurz nach der Gründung durch die Wiener mathematische und die Wiener astronomische Schule mit Johannes von Gmunden oder Regiomontanus, die indirekt Wegbereiter des heliozentrischen Weltbilds waren. Nach den Krisen durch Pestepidemien und die Türkenbelagerungen war die Universität Wien dann aber sehr lange nur eine zuerst jesuitisch und dann staatlich dominierte Ausbildungseinrichtung für künftige Kirchen- und Staatsdiener. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachen dann wissenschaftlich wieder gute Zeiten an.

STANDARD: Was war dafür ausschlaggebend?

Engl: Wichtig dafür waren zweifellos die Thun-Hohensteinschen Universitätsreform um 1850 und die Absicherung der Freiheit von Forschung und Lehre. Rund um 1900 lehrten dann zahlreiche weltbekannte Forscher an der Universität Wien. Ich nenne da nur als ein Beispiel den Geologen Eduard Suess, der die Wiener Hochquellwasserleitung plante. Ich erwähne Suess auch deshalb, weil er 1889 als Rektor der Universität Wien wegen antisemitischer Angriffe zurücktrat. Und dieser Antisemitismus hat sich dann in den 1920er-Jahren und 1930er-Jahren leider sehr verstärkt...

STANDARD:...was zu besonders schlechten Jahren führte.

Engl: Die Jahre des Nationalsozialismus waren sicher der Tiefpunkt. Durch die Vertreibungen und Außerdienststellungen von 40 Prozent des Lehrenden im Jahr 1938 hat die Universität Wien ungeheures intellektuelles Kapital verloren. Wir sollten aber auch nicht die Zeiten vergessen, die dazu hingeführt haben – und auch die Nachwirkungen: Leider hat man sich nach 1945 um die Wiedergewinnung der 1938 Vertriebenen nur sehr wenig gekümmert.

STANDARD: Wird die Erinnerung an diese dunklen Zeiten Teil des Jubiläumsjahrs 2015 sein? Bei den 600-Jahr-Feiern 1965 hat man diesen Teil der Geschichte noch völlig ausgeblendet.

Engl: Die Zeit des Nationalsozialismus und was dazu hinführte, wird in zumindest zwei Ausstellungen thematisiert: zum einen in der Ausstellung „Vertriebene Intelligenz“ und zum anderen in einer Ausstellung über den Wiener Kreis. Wir erinnern aber auch noch in vielen anderen Aktivitäten an diese Zeit. So würdigen wir seit einigen Jahren Forscher mit einem Ehrendoktorat, die womöglich an der Uni Wien promoviert hätten, wenn sie als Kinder oder Jugendliche nicht vertrieben worden wären. Wir sind stolz darauf, dass etwa der Physiker Walter Kohn oder der kürzlich verstorbene Chemiker Carl Djerassi diese Ehrungen angenommen haben. Ein solches Ehrendoktorat werden wir demnächst an Martin Karplus, den Chemiker-Nobelpreisträger 2013 vergeben.

STANDARD: Wie steht die Universität Wien heute da? Erlebt sie eine eher gute oder eine eher schlechte Phase?

Engl: Ich denke, dass sich unsere Forschungsleistungen trotz der budgetären Sorgen durchaus sehen lassen können. Wenn man etwa die ERC-Grants als Indikatoren hernimmt, stehen wir gut da: Wir haben bis jetzt 31 Grants eingeworben, die Universität München, die im letzten THES-Ranking als beste deutsche Universität auf Platz 29 weltweit landete, hat nur um einige wenige mehr. Und auch in den Fachrankings schneiden etliche Disziplinen wie die Mathematik, die Physik oder die Geisteswissenschaften sehr gut ab. Ich würde also sagen, dass es in vielen Fächern an der Universität heute durchaus eine Blütezeit gibt.

STANDARD: Bei den globalen Gesamtrankings hat die Universität Wien in den letzten Jahren aber eher an Boden verloren.

Engl: Ich halte die Fachrankings für aussagekräftiger, weil es einfach schwierig ist, eine Universität in einer einzigen Zahl zusammenzufassen. Aber natürlich bringen sie internationale Trends zum Ausdruck und sollten als Warnsignal dienen. Klar ist aber auch, dass in den Rankings Unis bevorzugt sind, die auch eine medizinische Fakultät besitzen. Und offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Finanzierung und Platzierung: Die Hong Kong University of Science and Technology hat ziemlich genau dasselbe Budget wie wir, aber nur rund ein Zehntel der Studierenden. Diese Universität ist eine der drei besten Asiens in den Rankings.

STANDARD: Ist absehbar, dass sich am schlechten Betreuungsverhältnis in vielen Fächern etwas ändert, das der Universität Wien offensichtlich viele Plätze im Ranking kostet?

Engl: Die Zahl der Studierenden ist mit rund 92.000 in den vergangenen Jahren einigermaßen konstant geblieben, und das Verhältnis zur Anzahl der Lehrkräfte hat sich nicht wesentlich verändert. Die 615 Millionen, die der Wissenschaftsminister und Vizekanzler mit dem Finanzminister für die nächsten Jahre als zusätzliche Mittel für die Universitäten vereinbart hat, gewährleisten im wesentlichen eine Fortführung des Status quo mit etwas zusätzlichem Geld. Wenn ein Teil dieser versprochenen Mittel für die Bezahlung der Ärzte verwendet werden sollte, dann hätten wir ein zusätzliches Problem. Das ist auch im Ministerium klar.

STANDARD: Universitäten sind sehr traditionelle Institutionen. Sind einige dieser alten Organisationsstrukturen – etwa die Einteilung des Personals in Kurien – für eine Hochschule im 21. Jahrhundert noch adäquat?

Engl: Vor einem halben Jahrhundert waren alle deutschsprachigen Universitäten sehr hierarchisch strukturiert und Ordinarienuniversitäten mit allmächtigen Professoren. Das ist zwar nicht vollständig verschwunden, aber die Hierarchien haben sich deutlich abgeflacht und werden sich noch weiter abflachen.

STANDARD: Durch welche Maßnahmen?

Engl: Unter anderem dadurch, dass wir neben den Professuren ein Tenure-Track-System mit Karrierestellen eingeführt haben. Das funktioniert zwar noch nicht perfekt, weil auch die rechtlichen Rahmenbedingungen noch nicht restlos geklärt sind. Damit schaffen früh Klarheit über die Möglichkeit einer durchgehenden Karriere unter klaren Qualitätsstandards. Dadurch flachen sich nicht nur die Hierarchien ab, das ist auch ganz wichtig für die Konkurrenzfähigkeit der Universität.

STANDARD: Die Inhaber der Tenure-Track-Stellen gehören aber rein rechtlich nicht zur Professorenkurie.

Engl: Das stimmt zwar, spielt im täglichen Universitätsbetrieb wenig Rolle, weil dies zum Beispiel bei der Einwerbung von Drittmitteln nicht entscheidend ist: Bei Forschungsförderungsorganisationen wie dem FWF oder dem ERC wird in erster Linie nach Qualität des Antrags und nicht danach entscheiden, ob jemand Professor ist oder ein der Mittelbaukurie angehörender assoziierter Professor mit Tenure-Track ist.

STANDARD: Das UG 2002 hat insofern nicht unbedingt zur Enthierarchisierung beigetragen, als es die Mitbestimmung verringert und die Stellung des Rektors sehr gestärkt hat.

Engl: Diese Kritik war womöglich am Anfang nicht unberechtigt. Aber wir haben uns zuletzt sehr bemüht, hier Veränderungen herbeizuführen. So gab es im letzten Jahr flächendeckend Gespräche des Rektorats mit den Fakultätskonferenzen. Dort kommt es auch nicht darauf an, ob jemand, der Vorschläge macht, im Mittelbau oder in der Professorenkurie sitzt, sondern da wird jedes Argument gehört. Aber natürlich müssen wir hier noch weitere Schritte setzen, denn eine Universität als Expertenorganisation kann nicht von einem „allwissenden“ Rektorat geleitet werden, sondern muss die Meinungen und das Wissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einbeziehen.

STANDARD: Apropos Mitarbeiterinnen: Die Universität war lange eine besonders männliche Institution, und im Arkadenhof des Hauptgebäudes sind 133 männliche Gelehrte ausgestellt aber keine einzige Wissenschafterin. Wie sehr hat sich das gebessert?

Engl: Zum Arkadenhof: Da läuft anlässlich des Jubiläumsjahr gerade die Vorbereitung einer Ausschreibung zu einem Wettbewerb, welche Wissenschafterinnen künftig in welcher Form dargestellt werden sollen. Das ist zwar nur ein verhältnismäßig kleines Projekt, das aber eine große symbolische Wirkung hat. Wichtiger sind die aktuellen Zahlen, und die entwickeln sich sehr erfreulich: Im vergangenen Jahr hatten wir bei den Neuberufungen einen Frauenanteil von 50 Prozent, in den Jahren zuvor waren das 30 oder 35 Prozent. Der Anteil ist auch in Fächern wie Chemie, Physik oder Mathematik, die traditionell als eher „männlich“ gelten, sehr hoch.

STANDARD: Eine Quote bräuchte es also nicht.

Engl: Nein, da immer die Qualifikationen entscheidend sein muss. Das Erfreuliche ist, dass Berufungskommissionen Frauen an die erste Stelle des Dreiervorschlags setzen, sodass es gar nicht nötig ist, eine eventuell drittgereihte Wissenschafterin zu berufen. Sehr wohl gibt es aber spezielle Förderprogramme: etwa die Berta-Karlik-Professuren. Die jüngsten drei dieser Stellen haben wir gerade erst am Montag verliehen. Wir werden unsere Förderungsschwerpunkte künftig aber auch in eine noch frühere Postdoc-Phase verlagern, wo der Bedarf am größten ist.

STANDARD: Gibt es neben der Nachwuchsproblematik noch andere Schwerpunkte, die Sie sich für Ihre zweite Amtszeit vorgenommen haben?

Engl: Unsere Nöte bei der Infrastruktur werden immer größer. Wir haben im Laborbereich der Forschung zwar durchaus gut investieren können, sonst hätten wir in der Chemie, der Pharmazie oder der Physik nicht wirklich gute Berufungen durchführen können. Aber wir stehen vor dem Problem, dass in wenigen Jahren das Biozentrum in der Althanstraße dringend erneuert werden muss. Die beste und kostengünstigste Alternative wäre ein Neubau im Vienna Bio Center im Dritten Bezirk, was Synergien schaffen würde. Die Pläne dafür liegen im Finanzministerium. Außerdem bemühen wir uns um eine Reduktion unserer 60 Standorte: Ein großes Ziel wäre etwa die Zusammenführung der Sozialwissenschaften unter ein Dach.

STANDARD: Einige Universitäten sind in den letzten Jahren mit unterschiedlichem Erfolg darangegangen, die traditionellen Fakultätsstrukturen ganz aufzulösen. Wäre das auch was für die Universität Wien?

Engl: Unsere Organisation wurde erst vor rund zehn Jahren stark reformiert. Wichtiger scheint mir, dass die Strukturen nicht zu Mauern zwischen den Fakultäten führen. Um das zu verhindern haben wir Forschungsplattformen für interdisziplinäre Projekte eingeführt, die als Instrument sehr erfolgreich sind. Zum anderen werden wir in den nächsten Jahren etliche neue interdisziplinäre Masterstudiengänge anbieten, die sich zum Teil aus den Forschungsplattformen entwickelt haben.

STANDARD: Der große internationale Trend in der Lehre scheinen sogenannte Massive Open Online Courses (Moocs) zu sein, die über das Internet stattfinden und große Teilnehmerzahlen aufweisen. Was plant die Universität Wien diesbezüglich?

Engl: Moocs sind vor allem eine Entwicklung in den USA, wo die Rahmenbedingungen an den sehr teuren Universitäten nicht vergleichbar sind mit den Rahmenbedingungen hier. Entsprechend haben ja auch Harvard, Stanford, Berkeley oder das MIT stark in diesem Bereich investiert. Aber natürlich werden auch hier die elektronischen Möglichkeiten die Lehre und die Universitäten stark verändern.

STANDARD: Wie könnte die Zukunft der Lehre mit Moocs an der Universität Wien aussehen?

Engl: Ich war bei der Inauguration des neuen MIT-Präsidenten, der einen Gutteil seiner Rede auf diese Frage verwendet hat. Die Antwort ist meines Erachtens klar: Elektronisch durchgeführte Lehrveranstaltungen können mehr Spielraum und Zeit für den persönlichen Dialog zwischen Lehrenden und Studierenden anhand konkreter Forschungsthematiken schaffen. Damit bieten Moocs für die Universitäten die Chance, in ihrem eigentlichen Kernbereich verstärkt tätig zu sein. In diese Richtung werden wir investieren.

STANDARD: In einem Interview zu seinem 90. Geburtstag forderte Hans Tuppy, der auch Rektor der Universität Wien war, dass die Universitäten heraus aus dem Elfenbeinturm und mehr hinein in die Gesellschaft müssten. Sehen Sie das auch so?

Engl: Absolut, wobei eine Öffnung gegenüber der Gesellschaft natürlich mehrerlei bedeutet: erstens eine weitere Öffnung gegenüber der breiten Bevölkerung, zweitens, sich noch mehr in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Offenheit gegenüber der Gesellschaft bedeutet drittens aber auch, die Grundlagenforschung stärker mit konkretem Anwendungsbezug zu verbinden. All das sind Schwerpunkte der nächsten Jahre, und die stehen auch so im Entwicklungsplan. Natürlich ist die Öffnung hin zur Gesellschaft auch ein Schwerpunkt bei den Veranstaltungen zum Jubiläumsjahr.

STANDARD: Auf welche Veranstaltung freuen Sie sich ganz besonders?

Engl: Ein besonderer Höhepunkt wird sicher das Campusfest im Juni im Alten AKH sein, wo die aktuelle Forschung der Universität in vielfältiger Weise unter die Leute gebracht wird, verbunden mit einem in jeder Hinsicht kulinarischen Programm. Da erwarten wir uns Tausende Besucherinnen und Besucher. Das Jubiläumsjahr ist für uns gerade in dieser Hinsicht aber vor allem ein Anfang und kein Ende. Wenn sich Formate bewähren und leitbar sind, dann werden wir sie sicher in den nächsten Jahren weiterführen. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 11.3.2015)