Peter Koller.

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STANDARD: Woher kommt das Bedürfnis nach Gerechtigkeit? Liegt es in der Natur des Menschen, oder ist es eine kulturelle Leistung?

Peter Koller: Wahrscheinlich ist es beides. Man findet auch bei Naturvölkern immer Vorstellungen vom fairen Tauschen oder Teilen. Es scheint eine anthropologische Konstante zu sein. Sie ist aber auch in hohem Maße kulturell geprägt. Gerechtigkeit hat etwa sehr viel mit sprachliche Kommunikation zu tun. Wir geraten immer wieder in die Lage, unser Handeln anderen gegenüber rechtfertigen zu müssen. Wenn diese Kommunikation friedlich ablaufen soll, müssen die vorgebrachten Gründe auch von anderen akzeptiert werden können. Sie müssen eine unparteiische Perspektive widerspiegeln. Es ist eine Voraussetzung jeder Moral, dass man zu einer gewissen Empathie fähig ist. Wir bringen das schon den Kindern bei, wenn wir sagen: Versetz dich in die Lage des anderen.

STANDARD: Welche Gerechtigkeitsvorstellungen sind verhandelbar, und welche blieben im Lauf der Geschichte immer gleich?

Koller: Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen wandeln sich im Lauf der Zeit. Gewisse Konstanten lassen sich feststellen, was die überlieferte Tradition seit der Antike betrifft. Aristoteles hat eine Reihe von Prinzipien herausgeschält, mit denen wir noch immer etwas anfangen können: eine allgemeine Gerechtigkeit, die darauf hinausläuft, dass wir andere nach gleichen Regeln behandeln sollen, und besondere Arten von Gerechtigkeit, wie die Verteilungsgerechtigkeit, die Tauschgerechtigkeit und die korrektive Gerechtigkeit, also die Berichtigung von Unrecht. Diese Einteilung ist in der akademischen Philosophie noch einigermaßen Standard. Das Alltagsdenken selbst wurde nicht unwesentlich durch die Philosophie geprägt. Es sind Vorstellungen, die seit der Antike über verschiedene Zivilisationen wie die Römer oder die Mittelalterkultur bis ins Heute transportiert wurden.

STANDARD: Wie hat sich die Idee von Gerechtigkeit von der Antike ins Mittealter gewandelt?

Koller: Die griechische Philosophie wurde von den Philosophen der mittelalterlichen Hochscholastik wie Albertus Magnus oder Thomas von Aquin aufgenommen. Sie haben sich die Grundzüge der aristotelischen Philosophie zu eigen gemacht, sie weiter ausgearbeitet und an die neue sozioökonomische Situation der mittelalterlichen Gesellschaft angepasst. Das politische Denken von Aristoteles war sehr stark auf die Polis, den griechischen Stadtstaat, konzentriert, während die mittelalterlichen Denker schon einen wesentlich breiteren Horizont ins Auge fassten - insbesondere was das wirtschaftliche Handeln betrifft. Man kann sogar sagen, dass sie eine Theorie einer Marktgerechtigkeit entwickelt haben. Verteilungsgerechtigkeit war dabei allerdings noch kein Thema.

STANDARD: Der Aufstieg des Bürgertums in der Neuzeit brachte fundamentale Veränderungen.

Koller: Gerechtigkeitstheorien, die die Gesamtverfassung einer Gesellschaft im Auge haben, werden seit der frühen Neuzeit entwickelt. Es setzte eine unglaubliche Konjunktur von Theorien des Gesellschaftsvertrags ein. Langsam taucht auch die Idee der Verteilungsgerechtigkeit auf. Mit der Idee, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft die Regeln ihres Zusammenlebens in einem anfänglichen Zustand von Freiheit und Gleichheit beschließen, kommt die distributive Gerechtigkeit langsam ins Spiel. Je mehr die Gesellschaft als zusammenhängendes und gemeinsames Gebilde der Daseinsbewältigung gesehen wird, desto stärker wird der Gedanke. Bis er dann im 19. Jahrhundert mit der Idee der sozialen Gerechtigkeit in den Vordergrund tritt.

STANDARD: Die Industrialisierung brachte neue soziale Bewegungen, die für Gerechtigkeit kämpften.

Koller: In der Tat glaube ich, dass der soziale Wandel eine wesentliche Rolle spielt. Es wird auch in den akademischen Theorien der sozialen Gerechtigkeit übersehen, welche Rolle die Gesellschaftsvorstellung hat, also die Auffassung, was eine Gesellschaft eigentlich ist. Die frühneuzeitlichen Gerechtigkeitstheorien gehen von einem mehr oder minder atomistischen Modell der Gesellschaft aus. Sie wird als Aggregat vieler selbstständiger Personen gedacht. Man stellte sich die Gesellschaft ähnlich einem Marktplatz vor, wo selbstverantwortliche Privatpersonen zusammentreffen und etwa Tauschgeschäfte machen. Die Industrialisierung hat ins Bewusstsein gebracht, wie stark die Menschen durch die arbeitsteilige Kooperation voneinander abhängig sind. Man kann nicht mehr sagen, dass jede Person ihres Glückes Schmied ist, sondern dass Glück von allen in Kooperation geschmiedet wird.

STANDARD: Welchen Einfluss hatten die Theorien von Karl Marx auf den Gerechtigkeitsbegriff?

Koller: Im 19. Jahrhundert hat der Anarchist Pierre-Joseph Proudhon den Begriff der sozialen Gerechtigkeit vorgeprägt, was allerdings noch wenig Resonanz gefunden hat. Marx hat von ihm einiges abgekupfert. Ein schönes Beispiel für die veränderte Gesellschaftsauffassung gegenüber den Denkern der Aufklärung ist das Kommunistische Manifest, das den Skandal der kapitalistischen Gesellschaft darin sieht, dass die Produktion gemeinschaftlich ist, und die Aneignung des Nutzens privat. Die Marx' sche Vorstellung, dass jedes Mitglied freiwillig zur Produktion nach seinen Fähigkeiten beiträgt und nach seinen Bedürfnissen nehmen kann, hat sich als unrealistisch erwiesen. Ein Erbe der marxistischen Tradition ist aber, dass man Gesellschaften als ganze sozioökonomische Ordnungen und zusammenfassende Systeme betrachtet.

STANDARD: Welche Umdeutung erfuhr die soziale Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert?

Koller: Sehr viele Reformen der Zwischenkriegszeit sind im Namen der sozialen Gerechtigkeit durchgeführt worden. Soziale Gerechtigkeit hatte sehr stark die Deutung von mehr Chancengleicheit bekommen. Auch die Politik des Roten Wien wurde mit der Parole der sozialen Gerechtigkeit gerechtfertigt. In der Nachkriegszeit ist das wieder stark aufgekommen. Überraschend ist, dass sich zuerst die damaligen Liberalen, besonders in Deutschland, dieses Begriffs bedient haben, um eine faire Regelung der Marktwirtschaft zu begründen. Man hat soziale Gerechtigkeit in den vergangenen Jahrzehnten sehr stark in sozioökonomischen Begriffen gedacht und vergessen, dass die Gestaltung der bürgerlichen und politischen Freiheiten auch ein wesentlicher Teil davon ist. Das sehen wir heute: Die Ungleichheiten, die sich entwickelt haben, haben zur Folge, dass die demokratischen Regeln ausgehebelt werden. Die Vermögenden haben einen derartigen Einfluss auf das politische Geschehen gewonnen, dass damit die Demokratie ausgehöhlt wird.

STANDARD: Mit der Bankenkrise hört man den Gedanken von Marx wieder oft: Die Verluste werden sozialisiert, die Gewinne privatisiert.

Koller: Das ist das Hauptproblem eines kapitalistischen Systems. Wenn es der Politik nicht gelingt, die Ungleichheiten in den Griff zu bekommen, wird die Machtkonzentration der Vermögenden die politische Ordnung zunehmend aus den Angeln haben. Man kann diese beiden interagierenden Sphären, die politische und die ökonomische Ordnung, nicht voneinander trennen. Ökonomische Macht übersetzt sich schnell in politische Macht und macht die demokratische Gleichheit zunichte. Das ist ein schleichender Prozess, der in den vergangenen Jahrzehnten an Fahrt gewonnen hat. Es gibt keinen Anhaltspunkt, wonach die immer größer werdenden Ungleichheiten mit irgendeinem plausiblen Argument gerechtfertigt werden könnten. In den einzelnen Nationalstaaten ist wegen des Standortwettbewerbs wenig zu machen. Wenn wir die Millionäre besteuern, flüchten sie in Steueroasen. Wir brauchen dafür starke Institutionen auf internationaler Ebene. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 14.3.2015)