Den Staaten fehle es an politischem Willen, den noch vorhandenen Handlungsspielraum richtig zu nutzen, kritisiert Shalini Randeria.

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STANDARD: Sie forschen über den Rückzug des Staates bei gleichzeitiger Zunahme juristischer Regulierung. Wo liegen die zentralen Probleme dieser Verschiebung?

Shalini Randeria: In Zeiten neoliberaler Globalisierung ist der Staat sowohl Akteur als auch Objekt. Er trifft Entscheidungen und unterstützt Prozesse, die schlussendlich zu seiner eigenen Transformation führen. Es geht daher nicht um einen Rückzug des Staats oder seine Schwächung im Allgemeinen, sondern um seinen Bedeutungswandel, um eine Machtverschiebung. Eine Vielzahl von Gesetzen wird heute nicht mehr von nationalen Parlamenten beschlossen, sondern von privaten bzw. transnationalen Akteuren vorgegeben. Nimmt ein Staat bei internationalen Institutionen beispielsweise einen Kredit auf, dann sind die damit verbundenen Konditionen für ihn rechtlich bindend. Auch wenn sie formale Legitimität besitzen, fehlt ihnen dennoch die soziale Legitimität. Eine problematische Folge dieser Verschiebung ist die Verschleierung von Verantwortlichkeiten. Bürgerinnen und Bürger wissen nicht mehr, wer welche Entscheidungen verantwortet oder wen sie dafür zur Rechenschaft ziehen können.

STANDARD: Schwindet der Einfluss des Staates dadurch zur Gänze?

Randeria: Der Staat zieht sich nicht überall gleichermaßen zurück. Während Sozialleistungen abgebaut werden und die staatliche Regulierung der Wirtschaft abnimmt, steigt der Einfluss des Staates auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. Doch selbst hier ist ein gewisser Privatisierungstrend spürbar. Viele sicherheitspolitische Kernaufgaben des Staates werden zunehmend an Privatdienstleister ausgelagert, was zu einer problematischen Kompetenzverschiebung führt.

STANDARD: Wie neu ist dieses Phänomen?

Randeria: Die Abnahme und Umverteilung staatlicher Souveränität sowie die Koexistenz sich überlappender Rechtsordnungen sind nicht neu. Sie waren für alle kolonialen Gesellschaften charakteristisch und sind es für weite Teile der postkolonialen Welt noch heute. In Westeuropa wurde die Diskussion über die Einmischung externer Akteure in nationalstaatliche Angelegenheiten durch die Finanzmisere Griechenlands und die Auflagen der Troika und den massiven Widerstand dagegen angefacht. Griechenland ist aber nur das jüngste Kapitel einer langen Geschichte neoliberaler Strukturanpassungen, die vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas oder Asiens seit den 1960er-Jahren von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF oder Weltbank oktroyiert wurden - und das mit verheerenden Folgen. Nur wurden diese außereuropäischen Erfahrungen samt den damit einhergehenden Bürgerrechtsbeschneidungen - abgesehen von linken und entwicklungspolitischen Kreisen in Europa - kaum zu Kenntnis genommen.

STANDARD: Sie betonen aber auch den verbleibenden Handlungsspielraum der Staaten.

Randeria: Die Handlungsoptionen des Staates sind heute zweifelsohne eingeschränkt, aber nicht immer in dem Ausmaß, wie politische Eliten den Bürgerinnen und Bürgern eines Landes glauben machen wollen. So liegt es nach wie vor in der Verantwortung des jeweiligen Staates, die Handelspolitik der Welthandelsorganisation, die Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF oder der Weltbank durch nationale Gesetzgebung oder administrative Maßnahmen umzusetzen. Er behält somit einen gewissen Handlungsspielraum, wie internationale Vorgaben - zum Vor- oder Nachteil einer bestimmten Bevölkerungsgruppe - national ausgelegt und implementiert werden. Meiner Meinung nach haben wir es daher heute mit "listigen Staaten" zu tun, die sich schwächer darstellen, als sie tatsächlich sind, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Ihnen fehlt der politische Wille, nicht die Kapazitäten.

STANDARD: Sie befassen sich auch mit der Zunahme weltweiter Normen im Bereich von Natur. Können Sie ein Beispiel nennen?

Randeria: Die Patentierung biogenetischer Substanzen stellt ein technologisches, aber vor allem ein rechtliches Novum dar. Heutzutage können kleinste Veränderungen von biogenetischen Codes als geistiges Eigentum patentiert werden. Beispielsweise ist es einer US-amerikanischen Firma gelungen, Basmatireis, der in Pakistan und Nordindien seit jeher kultiviert wird, genetisch minimal zu verändern und so zu geistigem Eigentum der Firma zu verwandeln, die ihn nun als "Texamati" weltweit vermarkten darf.

STANDARD: Inwiefern hat das mit Normierung zu tun?

Randeria: Dass eine solche Patentierung überhaupt möglich ist, liegt einer bestimmten Auffassung von Eigentum und einer kategorischen Trennung von Kultur und Natur zugrunde. Beides ist euro-amerikanischer Prägung. Die Gegner dieser Biopiraterie durch westliche Konzerne, die Gemeingüter zu Profitzwecken privatisieren, machen darauf aufmerksam, dass der Basmatireis kein Natur-, sondern ein Kulturgut sei, das überhaupt erst durch das kollektive Wissen und die Arbeit von bäuerlichen Gemeinschaften zu einem international gefragten "Produkt" geworden ist, dessen Anbau und Vermarktung ihnen nun verwehrt werden soll. Die Diskussion um die Privatisierung von Gemeingut beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Agrarproduktion, sondern betrifft auch andere Gemeingüter wie Wald, Wasser oder Computercodes. Damit diese allgemein zugänglich bleiben und nicht privatisiert und veräußert werden, ist staatliches Eingreifen gefragt.

STANDARD: Sie kritisieren, dass auch international agierende Umweltschutzorganisationen diese euroamerikanische Sicht auf die Natur durchsetzen. Wie tun sie das?

Randeria: Es gibt nirgendwo auf der Welt eine unberührte Natur. Die "Natur", die heute unter dem Label "Biodiversität" als schützenswert definiert wird, ist jene, die Menschen durch eine symbiotische Lebensweise vor Ort geschützt und geschaffen haben. Die Natur vor diesen Menschen schützen zu wollen, die seit Jahrhunderten mit dieser Natur leben, ist nicht nur kontraproduktiv, sondern auch ungerecht, da Menschen vertrieben, enteignet und ihrer Lebensgrundlage beraubt werden.

STANDARD: Diese Kritik an Umweltorganisationen ist in Europa nicht sehr verbreitet, oder?

Randeria: Diese sogenannten "Park versus People"-Debatten sind in Afrika, Süd- und Südostasien oder Lateinamerika bestens bekannt. Der Widerstand gegen Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen aufgrund von Nationalparks ist dort stark ausgeprägt. Doch inwieweit sich die betroffenen Menschen weltweit Gehör verschaffen können, hängt von vielen Faktoren ab: dem Zugang zu Medien und Netzwerken von Aktivisten, dem rechtlichen Know-how und den finanziellen Mitteln für Gerichtsklagen.

STANDARD: Wie verändern sich die Möglichkeiten der Mitsprache oder des Protestes generell, wenn die Verantwortlichkeiten so unklar sind, wie Sie es beschrieben haben?

Randeria: Die Menschen meinen zu Recht, dass sie Politiker und Regierungen zwar abwählen, aber nur wenig Einfluss auf politische Inhalte nehmen können. Sinkende Wahlbeteiligung und Politikverdrossenheit sind häufig die Folge. Neben einer Entpolitisierung zentraler Gesellschaftsbereiche ist in vielen Ländern auch ein anderer Trend spürbar: Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust von Parlamenten wachsen das Prestige und die Macht der Judikative. Der Protest verlagert sich demnach von der politischen Sphäre in die Arena des Rechts und auf die Straße. Kein Wunder, dass Bürger und Aktivisten heute vermehrt den Gang vor nationale wie internationale Gerichte wählen, um ihre Rechte einzufordern und ihre Vorstellung von Gemeinwohl durchzusetzen. (Beate Hausbichler, DER STANDARD, 25.3.2015)