Eine Sprachanalyse soll den Fahndern bei der Suche nach den Mördern des russischen Oppositionspolitikers Boris Nemzow helfen. Das Ermittlungskomitee hat Linguisten mit der Untersuchung der E-Mails beauftragt, die Nemzow erhalten hat. Die Tageszeitung "Kommersant" berichtet unter Berufung auf Ermittlerkreise, dass die Polizei nach dem Studium des regen elektronischen Briefverkehrs Nemzows inzwischen eine Reihe verdächtiger Mails aussortiert hat. Direkte Drohungen seien nicht ergangen, doch einige Briefeschreiber hätten sich Nemzows politische Tätigkeit "zu sehr zu Herzen genommen", wird ein Ermittler zitiert.

Die Sprachforscher sollen nun feststellen, ob die teilweise stark emotional gefärbten Texte der Opponenten Nemzows Andeutungen auf physische Gewalt enthalten. Der Anwalt der Nemzow-Familie Wadim Prochorow begrüßte die linguistische Analyse als notwendigen Teil eines "objektiven Ermittlungsverfahrens" und forderte zugleich, auch die verschiedenen Angriffe auf den Kremlkritiker in den vergangenen Jahren zu untersuchen. Unter anderem erinnerte er an direkte Morddrohungen, die Nemzow im Juli 2014 über Facebook erhalten hatte, denen sich die Behörden damals aber weigerten nachzugehen.

Mit der angeforderten Sprachanalyse legten die Behörden die zuvor propagierte Version eines islamistischen Hintergrunds quasi zu den Akten, resümiert der Kommersant. Nach der Festnahme von fünf Verdächtigen aus dem Kaukasus wurden gezielt Informationen gestreut, die Täter hätten Nemzow wegen islamfeindlicher Äußerungen nach dem Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo erschossen. Direkt auf dieses Tatmotiv hatte so Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow verwiesen, in dessen Leibgarde pikanterweise mehrere Verdächtige tätig waren.

Lecks beim Geheimdienst

Seither haben Informanten aus Ermittlungskomitee, Kreml und Geheimdienst verschiedenen Medien allerdings noch (mindestens) drei weitere mögliche Versionen gesteckt: Kremlnahe Medien berichteten von einer "Spur ins Ausland". Demnach soll der Hauptverdächtige angeblich mit einem nun in der Ukraine kämpfenden Tschetschenen verbandelt sein, der schon einmal ein Attentat auf Wladimir Putin geplant habe.

Dies wird von der Wirtschaftsnachrichtenagentur RBK dementiert, die unter Verweis auf ihre Quellen berichtet, der Auftraggeber sei ein Verwandter eines Kadyrow nahen Politikers aus Tschetschenien gewesen.

Die am meisten verwickelte These kommt aus dem Kreml: Ihr zufolge war der Geheimdienst FSB selbst in den Mord involviert. Ziel der Tat sei es demnach gewesen, den in Russland Narrenfreiheit genießenden Kadyrow bei Putin anzuschwärzen, um ihn abzusetzen und dessen weitverbreitete Schutzgeldmafia in ihrem Treiben einzuschränken.

Die Verdächtigen hingegen bestreiten ihre Schuld, auch der zunächst geständige mutmaßliche Killer hat sein Geständnis widerrufen. Ihre Haftbeschwerde wird am 1. April in Moskau verhandelt. (André Ballin aus Moskau, DER STANDARD, 25.3.2015)