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Peter Handke (72) spottet über Otto Normalverbraucher und schimpft ihn heiter-poetisch aus: Der in Paris lebende Dichter fordert das Theater heraus.

Foto: APA/Hochmuth

Wien - Jemand kommt eine Landstraße heruntergeschlendert: "ICH, Erzähler " nennt sich der kuriose Mann, der sich daseinsfroh im Kreis dreht. Er haust am Rande der Zivilisation, wo er "mit ausgreifenden, epischen Schritten" Raum gewinnt und doch nicht recht vom Fleck kommt.

Der Erzähler gehört zu den vielen Käuzen und Sonderlingen, die es so nur in Peter Handkes Bühnendichtungen gibt. "ICH, Erzähler" ist eine besonders denkwürdige Figur. Sie versteckt sich im Titel des neuen Stückes, wo sie an unscheinbarer zweiter Stelle steht: Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße. Der Untertitel trägt kaum Erhellendes bei: "Ein Schauspiel in vier Jahreszeiten". Und doch eignet diesem fast 180-seitigen Lesedrama ein Zug ins Großartige und Epochale, der sogar für Handke ungewöhnlich ist.

Unter prosaischen Gesichtspunkten wäre der Held eine Zumutung. Er sitzt häufig auf einem improvisierten Hochstand, vielleicht die "Ruine einer Rinderbesamungsanlage". Missgünstig beäugt er Vorüberkommende. Gelegentlich äfft ihre "Geh- und Grußweisen" nach.

Der Erzähler verfügt aber auch über ein zweites Ich. Dann nennt er sich bewusst hochtrabend "der Dramatische". Als solcher liest er den "Straßenokkupanten" gehörig die Leviten, oder er verstrickt sich in neckische Zwiegespräche mit geheimnisvollen Frauen. Denen versucht er zu imponieren. Immer aber zeigt sich das Stück vom Zerfall bedroht. Es mündet dann in weit ausladende Sentenzen, die so, in ihrer naturgesättigten Schönheit, nur aus Handkes Feder stammen können.

Schön heißt, "an einem anderen frühen Morgen an der Hand meines Großvaters angesichts der Regentropfen im Staub zum ersten Mal im Leben nicht bloß die Gegend, sondern die Erde, die ganze, als etwas Heimisches" zu erschauen. Konflikte ergeben sich. Man wird sie nicht unbedingt dramatisch nennen wollen.

Straßen liebt unser zweifacher Held, indem er ihre Funktion hasst. Niemand soll daran denken, sich auf Gehwegen tatsächlich fortzubewegen. Die scheel beäugte Menschheit steht für ihn unter Generalverdacht. Sie besteht aus lauter "Unschuldsteufeln". Passanten werden brüsk abgekanzelt und als "Krauterer ... Staubfänger ... Schmudelputze" beschimpft. Man muss Handkes Helden, gewiss ein Alter Ego seines Pilze sammelnden Autors, ins Herz schließen. Die Unschuldigen rufen in immer neuen peristaltischen Bewegungen szenische Stimmungen hervor - und schaffen sie wieder ab. Der Text ist eine Kampfansage an jede herkömmliche Bühne.

Zugleich spürt er einem poetischen Wirklichkeitsbegriff hinterher, wie ihn sich zuletzt vielleicht die Frühromantiker erhofft haben. Peter Handkes Stück ist ein Traum. Als solcher besitzt es recht willkürlich Anfang und Ende. In ihm stecken Martin Heideggers philosophische Gehversuche auf den "Holzwegen". Zugleich rechnet es mit unser aller Rechtschaffenheit kauzig-komisch ab. Das Burgtheater möchte das Werk laut APA 2015/2016 uraufführen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 26.3.2015)