Christiane Spiel, Psychologie-Professorin an der Uni Wien, hat eine nationale Strategie zur Gewaltprävention entwickelt. Anders als in vielen anderen Ländern sei in Österreich das gesellschaftliche Problembewusstsein für Mobbing in der Schule unterentwickelt.

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STANDARD: Laut dem neuen OECD-Report "Skills for Social Progress: The Power of Social and Emotional Skills" hat Österreich im Vergleich von 27 Ländern die höchste "Bullying"-Rate. Hierzulande wird einer von fünf Buben (21 Prozent) in der Schule gemobbt oder schikaniert, dieser Anteil ist doppelt so groß wie im OECD-Schnitt (11 Prozent) und fünfmal größer als in Schweden, wo die Mobbingrate bei nur vier Prozent liegt. Überrascht Sie diese hohe Rate Österreichs?

Spiel: Nein. Österreich hat bei Studien über Bullying oder Mobbing in Schulen immer schon schlecht abgeschnitten. Gewalt und Aggression sind ernst zu nehmende Probleme an österreichischen Schulen, wie wir aus internationalen Studien, aber auch aus eigenen Forschungen wissen. Diese hohen Gewaltraten waren auch der Grund, warum unser Institut 2007 von der damaligen Unterrichtsministerin Claudia Schmied beauftragt wurde, eine nationale Strategie zur Gewaltprävention zu entwickeln. Das Ergebnis war die Initiative "Weiße Feder - Gemeinsam für Fairness und gegen Gewalt".

STANDARD: Der OECD wird oft vorgeworfen, sie würde nur einen quantitativen Maßstab an die Schule anlegen. Nun schaut sie sich auch soziale Kompetenzen an. Warum ist Gewalt ein genuines, wichtiges Schulthema?

Spiel: Weil Gewalt langfristige Folgen für Opfer und für Täter hat. Die Opfer leiden oft an Depressionen, die Täter zeigen überdurchschnittlich häufig antisoziales Verhalten wie Alkohol- und Drogenkonsum, Delinquenz, werden also straffällig. Aber auch die Schülerinnen und Schüler, die selbst gar nicht aktiv an Gewalthandlungen teilnehmen, haben langfristig Nachteile. Wenn sie nicht lernen, wie Gewalt zu verhindern ist, werden sie auch als Erwachsene kaum Zivilcourage zeigen. Insofern ist Gewalt in der Schule nicht "nur" das Problem einzelner Schülerinnen und Schüler, sondern ein Problem der Gesellschaft.

STANDARD: Was ist denn, auch für die wissenschaftliche Erhebung, alles unter Bullying zu verstehen?

Spiel: Neben physischer und verbaler Gewalt gehört auch Beziehungsgewalt dazu, wie Ausgrenzen, Gerüchte verbreiten, Handlungen, die oft nicht als Gewalt gesehen werden; in den letzten Jahren auch zunehmend Cyberbullying. Es ist wichtig, das klar zu benennen, Grenzen zu setzen und etwas zu tun. Darum sind die Hauptziele der Gewaltpräventionsstrategie, Gewalt überhaupt als solche zu erkennen, zu wissen, was man dagegen tun kann, und das auch umzusetzen.

STANDARD: Wie ist das zu erklären, dass Mobbing in österreichischen Schulen ein so viel größeres Problem als in anderen Ländern?

Spiel: Das hat mit zwei Aspekten zu tun. Auf der einen Seite gibt es in anderen Ländern, speziell in den nordischen, viel mehr externe Unterstützung in Schulen, also Sozialarbeiter und Psychologen, die sich speziell damit beschäftigen. Aber auch die Community-Einbettung der Schulen, die stärkere Verbindung mit dem "Grätzl", kann viel beitragen zu einem friedlicheren, kooperativen Miteinander. Auf der anderen Seite muss für erfolgreiche Gewaltprävention die gesamte Schule dahinterstehen und die klare Botschaft senden: "Wir dulden keine Gewalt."

STANDARD: Wie gehen denn Lehrerinnen und Lehrer in Österreich mit Bullying in ihren Klassen um? Sind Sie darauf vorbereitet?

Spiel: Wir haben eine Erhebung unter Lehrerinnen und Lehrern gemacht und gefragt, was sie im Gewaltfall tun. Es hat sich gezeigt, dass das Wissen sehr eingeschränkt ist. Meistens kam: den Täter bestrafen. Dabei sollte die erste Reaktion der Schutz des Mobbingopfers sein. Das Thema muss daher verpflichtender Teil der Pädagogenausbildung werden. Wie führe ich z. B. ein Gespräch mit einem intelligenten Täter? Wie etabliere ich Gewaltprävention in meiner Schule?

STANDARD: Was können Programme zur Prävention von Gewalt und Mobbing in den Schulen konkret leisten?

Spiel: Gewaltprävention verbessert nicht nur das Klassenklima, sondern fördert auch Motivation und Leistung und ist damit eine wichtige Aufgabe unserer Gesellschaft. Schülerinnen und Schüler, die in einem Umfeld aufwachsen, das nichts gegen aggressives Verhalten unternimmt, gehen auch nicht gerne in die Schule, sind weniger motiviert und haben schlechtere Noten.

STANDARD: Wie sieht die von Ihnen erarbeitete Gewaltpräventionsstrategie aus?

Spiel: Ziel ist eine nachhaltige Verankerung, daher wurde nicht nur die Schule fokussiert. Wir haben mehrere Aktivitätsbereiche definiert - vom notwendigen politischen Bekenntnis über Öffentlichkeitsarbeit mit zielgruppenspezifischen Informationen, Leitfäden für konkrete Situationen und Weiterbildungsseminaren bis zur begleitenden Evaluation und Forschung.

STANDARD: Welche Erfahrungen haben Sie und Ihr Team bei der Implementierung dieses Anti-Gewalt-Programms in österreichischen Schulen gemacht?

Spiel: In Österreich gibt es sicher ein geringeres Commitment als in anderen Ländern, bei solchen Gewaltpräventionsprojekten mitzumachen. Während z. B. in Finnland in wenigen Jahren über 80 Prozent aller Schulen an einem ähnlichen Programm teilgenommen haben, ist die Situation in Österreich deutlich anders. So haben von den 155 Schulen der Sekundarstufe in Wien, die wir alle angeschrieben haben, sich nur 34 für eine Teilnahme beworben. 26 davon haben die Voraussetzungen erfüllt. Dazu gehörte, dass mindestens 80 Prozent des Lehrkörpers bereit waren, beim Programm mitzumachen und auch an der Evaluierung teilzunehmen.

STANDARD: Wie erklären Sie dieses mangelnde Interesse?

Spiel: Wir haben den Eindruck, dass sich Lehrkörper in Schulen oft nicht als Lehrerteams verstehen und daher generell Programme und Maßnahmen, bei denen alle mitmachen sollen, nur schwer umzusetzen sind. Gewalt ist auch ein Thema, zu dem man leicht eine ambivalente Haltung einnimmt: Sie ist an sich natürlich unangenehm und unerwünscht, aber man will auch nicht gern zugeben, dass Gewalt an der eigenen Schule ein Thema ist.

STANDARD: Es fehlt also weniger an Instrumenten als am Willen, sie zu nutzen, bzw. überhaupt am Problembewusstsein?

Spiel: Ja. Wir haben mittlerweile genügend Instrumente, nur brauchen wir dafür eine größere Verbreitung. Es gibt zum Beispiel auch ein Selbstevaluationsinstrument, mit dem Schulen das Gewaltvorkommen in einzelnen Klassen und der ganzen Schule herausfinden können. Auch dieses Instrument wird nur selten von Schulen eingesetzt. Was wir in Österreich noch immer zu wenig haben, was uns noch immer fehlt, ist eine Kultur der Verantwortlichkeit. (INTERVIEW: Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 28.3.2015)