Foto: Diogenes

Je suis en route - ich schlendere den Boulevard Montparnasse entlang und geradewegs zu auf eines der berühmtesten Pariser Literatencafés, La Closerie des Lilas. "Der einzige Dichter, dem ich hier je begegnet bin, war Cendrars", schrieb Ernest Hemingway, selbst Stammgast in diesem Lokal, in dem sich Tristan Tzara und André Breton über den Dadaismus in die Wolle gerieten.

Ich lasse den Mantel an, taste nach dem schmalen Band in der Tasche, bin auf dem Sprung. Auch das Dekor im 1920er-Stil interessiert mich wenig, durchs Fenster erblicke ich die Statue von Marshall Ney, wieder denke ich an Hemingway und: Cendrars habe das zerschlagene Gesicht eines Boxers gehabt, "ein leerer, mit Nadeln zugenähter Ärmel, so drehte er sich, mit der einzigen Hand, die ihm geblieben war, eine Zigarette."

Wie er dies schaffen konnte, erstaunt auch Philippe Djian, dessen Buch In der Kreide ich nun aus der Manteltasche ziehe. Djian beschäftigt sich darin mit zehn Schriftstellern, die auf sein Schreiben, vor allem auf sein Leben großen Einfluss ausübten, einer davon der im Schweizer Jura geborene Blaise Cendrars.

Dieser trifft 26-jährig als Frédéric Louis Sauser in Paris ein, der Künstlername sollte seine Herkunft verschleiern. Fünfzehn Jahre wird er in Paris bleiben, ein Vagabund par excellence, er liebe "la vie dangereuse" mehr als das Bücherschreiben. Und so verkehrt er in Anarchistenkreisen, wohnt unter Mördern und Revolutionären, arbeitet als Söldner, Chauffeur und Zirkusakrobat.

Eines Tages wird er bei einem Buchdiebstahl erwischt, was ihm Haft einbringt und in weiterer Folge die Bekanntschaft jenes Dichters, dessen Buch er geklaut hat: Guillaume Apollinaire. Bei diesem zieht er später ein, dann bei Marc Chagall, schließlich mietet er - kaum zehn Gehminuten von der Closerie entfernt - eine Wohnung in der Rue Jean Dolent. Nicht sehr einladend wirkt das Haus heute, seine Fenster erinnern an Schießscharten, ich lege kurz den Kopf in den Nacken, wie Cendrars es immer getan haben soll, wenn er seine Wohnung verließ. Habe er ein Flugzeug am Himmel entdeckt, sei er sofort ins Haus zurück und habe die Koffer gepackt. Eine der vielen Anekdoten, die sich um sein Leben ranken.

Freilich, viele seiner Reisen sind imaginär, er ist in Worten unterwegs, sie spiegeln seine innere Unruhe wider. Und Cendrars weiß, "on se dit merde de tous les coins de l'univers", man rufe sich Scheiße zu von allen Enden der Welt, aber er liebt die Welt wie wohl kaum ein anderer Schriftsteller vor und nach ihm. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, muss Cendrars an die Front, 1915 erleidet er eine schwere Verwundung, eine Granate reißt ihm den rechten Arm weg. Sein Lebenswille wird dadurch nur noch stärker, sein Ansatz radikaler.

"Was mich mit der Zeit am meisten anwiderte, war die Literatur mit ihren langweiligen Aufgaben und Geschäften und das gekünstelte und konformistische Leben, das die Schriftsteller führten", heißt es in Moravagine, heute oft als sein Hauptwerk bezeichnet. Dabei erreicht Cendrars gerade in seinen Gedichten eine Intensität, die ihresgleichen nicht hat.

Die Gedichte Cendrars sind es auch, die Philippe Djian besonders erwähnt. "Cendrars ist wie ein Virus", schreibt er, ihn lesend komme einem das Leben wunderbar vor, selbst wenn es grauenhaft sei. "Jeder normale Mensch sollte einen guten Koffer besitzen. Und Cendrars lesen." Cendrars stirbt 1961, wie Hemingway. Auch diesem widmet Djian einen Text. Djian, in Paris geboren, wuchs im 10. Arrondissement auf. Je suis en route. (Christoph Bauer, Album, DER STANDARD, 28.3.2015)