Sozialarbeiter Ceipek über seinen Dauerkonflikt mit der Roma-Community zum Thema Kinderhandel: "Man sollte solche Machenschaften endlich einmal verurteilen, statt zu verleugnen."

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie haben 40 Jahre für die Jugendwohlfahrt gearbeitet, jetzt gehen Sie in Pension. Gern oder ungern?

Ceipek: Derzeit gerne. Ich weiß nicht, ob ich in ein paar Monaten anders darüber denke, aber momentan fühle ich mich ausgepowert, weil Anfeindungen und blöde Zwischenfälle immer wieder passieren. Das bindet meine Arbeitskraft, dient aber den Kindern überhaupt nicht. Das nützt höchstens den Hintermännern des organisierten Menschenhandels.

STANDARD: Was konkret meinen Sie?

Ceipek: Kürzlich hat die Polizei ein vierjähriges Mädchen aus Bulgarien in die Drehscheibe gebracht, das in einem Wiener Park gebettelt hat. Die vermeintliche Großmutter kam gleich mit und wollte das Kind ausgefolgt haben. Da sie aber weder dem Jugendamt noch der Polizei noch der bulgarischen Botschaft glaubhaft machen konnte, dass sie wirklich die Großmutter war, habe ich ihr das Kind nicht ausgefolgt. Daraufhin haben sich die Bettellobby und die Frau Hebein (Birgit Hebein, grüne Sozialsprecherin in Wien, Anm.) bei Stadtrat Oxonitsch über mich beschwert, weil ich eine Familienzusammenführung verhindern würde. Ich konnte nachweisen, dass ich korrekt gehandelt habe - aber damit war ich total beschäftigt, und es ist zermürbend.

STANDARD: Sie haben in einem STANDARD-Interview gesagt, dass bettelnde Kinder bzw. Kinder, die Taschendiebstähle begehen, eigentlich immer Roma seien und dass ein paar mächtige Clanchefs im Hintergrund die Fäden ziehen. Personalvertretung und Bettellobby haben Sie der Roma-Feindlichkeit bezichtigt, Ihre Vorgesetzten ha-ben Ihnen vorübergehend Sprechverbot erteilt. Würden Sie das heute nochmals so sagen?

Ceipek: Noch viel vehementer. Gerade jetzt in den letzten Wochen kommt immer mehr heraus, dass das, wovor ich damals gewarnt habe, eintritt.

STANDARD: Und zwar?

Ceipek: Vor kurzem wurde ein 17-jähriges Mädchen wegen serieller Diebstähle zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Mädchen war einige Male bei uns, sie musste sich als Zwölfjährige ausgeben und ist in einem Umfeld von organisierter Kriminalität aufgewachsen, das in ganz Europa tätig ist. Sie hat selbst ausgesagt, dass sie als Vierjährige verkauft wurde, mit acht Jahren zur Diebin ausgebildet wurde, und seither muss sie jeden Tag stehlen gehen. Wenn man solche Aussagen vor Gericht richtig interpretiert, kann man diesen Kindern helfen. Sonst nicht. Und die Roma-Community sollte solche Machenschaften endlich einmal verurteilen, statt zu verleugnen.

STANDARD: Was wäre die richtige Interpretation?

Ceipek: Richtig wäre, dieses Mädchen als Opfer von Menschenhandel zu sehen und auch so zu behandeln - und nicht, sie wegen hunderter Diebstähle ins Gefängnis zu stecken. Ich predige Polizei und Justiz seit Jahren, dass man hier nicht den einfacheren Weg gehen darf.

STANDARD: Bis dato erfolglos?

Ceipek: Ich bin bei den zuständigen Stellen keinen Schritt weitergekommen. Wie viele Sitzungen habe ich hinter mir: Mit der Stadtregierung, mit der Polizei, mit Justizvertretern. Ich habe alle Fälle dokumentiert, aber man hat mir gesagt, das klinge zwar alles plausibel, aber ich könne den letztgültigen Nachweis nicht erbringen.

STANDARD: Warum nicht?

Ceipek: Weil die Bosse und die Aufpasser, die sie für die Kinder abgestellt haben, so schlau sind, sie rechtzeitig abzuziehen. Wie oft hatte ich den Fall: Ein Kind wird in die Drehscheibe gebracht, es erzählt eine abenteuerliche Geschichte, wo es schon überall in Europa gestohlen hat, ich bringe die Behörden auf Trab, aber das Kind reißt wieder aus - muss wohl wieder ausreißen. Ein paar Monate später ist dasselbe Kind in Paris als Taschendieb unterwegs. Und statt sich der Sache in einer international konzertierten Kraftanstrengung anzunehmen, wirft man mir lieber Mediengeilheit vor - weil es bequemer ist.

STANDARD: Was hielten Sie für die richtige Vorgangsweise?

Ceipek: Man müsste etwas Geld in die Hand nehmen und in jedem Bundesland eine Drehscheibe errichten. Das wäre schon deshalb wichtig, um an Zahlen heranzukommen. Wir haben keine Zahlen über geschleppte Kinder in den Ländern, aber die Verantwortlichen von Polizei und Jugendwohlfahrt rufen mich oft an und fragen, was sie tun sollen. Daher weiß ich, dass es in jedem Bundesland Fälle gibt - nur offiziell wird dann immer so getan, als sei das ein Wiener Problem. Keine Fälle, keine Dokumentation, kein Geld notwendig. Aber so wird man den Kindern nicht helfen können.

STANDARD: Haben Sie sich eigentlich immer schon mit der Politik angelegt?

Ceipek: Immer mehr. Weil alle politischen Bekenntnisse, gegen Menschenhandel einzutreten, immer nur leere Worthülsen waren. Die Taskforce Menschenhandel im Außenministerium ist die einzige Stelle, die sich wirklich bemüht, etwas zu verändern und mit neuen Erkenntnissen zu arbeiten. Aber leider hat der Tiger zu selten ein Gebiss.

STANDARD: Was hat sich verändert in der Jugendwohlfahrt?

Ceipek: Leider hat man es verabsäumt, dem Trend der neuen Völkerwanderung zu entsprechen. Dem wird heute zu wenig Rechnung getragen. In Traiskirchen sitzen bis zu 700 Jugendliche wie in einer Bahnhofshalle und müssen tatenlos warten, ob sie Asyl bekommen. Dem müsste die Jugendwohlfahrt sofort Einhalt gebieten. Ich rede nicht von Wien und Niederösterreich, die kümmern sich über die Maßen um die konkret Betroffenen. Aber die Jugendwohlfahrt österreichweit und auch die Familienministerin wirken äußerst entspannt.

STANDARD: Was müsste man tun?

Ceipek: Es müsste nobelste Aufgabe von Bund und Ländern sein, die Kinder zu versorgen, und zwar so zu versorgen, dass sie nicht nur registriert und aufbewahrt werden. Es ist unmenschlich, dass diese Kinder, die traumatisiert aus Kriegsgebieten kommen, monatelang in Ungewissheit belassen werden: Sie wissen nicht, was mit ihnen passiert, sie haben nichts zu tun, niemand kümmert sich wirklich. Einige hauen ab, tauchen irgendwo unter, radikalisieren sich möglicherweise - und dann ziehen wir ihnen mit der Polizei- und Sicherheitskeule eins über.

STANDARD: Wie soll man umgehen mit Kindern und Jugendlichen, die in den "heiligen Krieg" ziehen?

Ceipek: Dazu kann ich relativ wenig sagen, weil wir uns auf "davor" konzentriert haben. Ich habe immer wieder Kinder hier, die Moscheen besuchen. Vor zweieinhalb Jahren habe ich erstmals IS-Fahnen unter Kinderbetten gefunden. Ich habe sofort den Verfassungsschutz alarmiert. Man sagte mir, sie kennen das Problem und sie beobachten das weiter, aber sie können nichts tun, solange nichts passiert. Es wurde in einigen Moscheen in Wien gehetzt und radikalisiert.

STANDARD: Hat man zu lang zugesehen?

Ceipek: Ja. Das ist aber nicht die Schuld der Polizei. Alle gemeinsam sind wir zu lange nicht auf das Problem aufmerksam geworden.

STANDARD: Die Budgets der Länder und Gemeinden ächzen unter dem Spardruck. Spüren Sie den auch?

Ceipek: Hier in der Drehscheibe spüren wir das nicht. Dafür bin ich auch der Gemeinde Wien sehr dankbar, dass uns das hier ermöglicht wird. Ich weiß, das ist nicht immer einfach. Aber auch wir stellen fest: Das Budget für Jugendwohlfahrt ist seit Jahren gleichbleibend, es wird tendenziell sogar weniger. Da muss ich schon fragen: Muss ich zum Beispiel ausgerechnet bei 5000 Jugendlichen sparen, die nach Österreich geflüchtet sind? Was ich heute einspare, kann mir morgen auf den Kopf fallen. Wenn ich diesen 5000 Kindern nicht oder nur schleppend bei der Integration helfe, habe ich eines Tages Erwachsene, die sich nicht selbst erhalten können und staatliche Unterstützung brauchen. Nehme ich heute ein bisschen mehr Geld in die Hand, erspare ich mir hohe Folgekosten.

STANDARD: Was sehen Sie als Ihren größten persönlichen Erfolg?

Ceipek: Dass ich die Drehscheibe in Europa so etablieren konnte, dass sie überall anerkannt ist und viele internationale Anfragen kommen, wie wir das hier geschafft haben. Natürlich ist unser Modell nicht eins zu eins auf alle Länder umsetzbar, weil es überall andere Gesetze gibt. Aber vom Prinzip her, würde ich sagen, ist die Drehscheibe beispielgebend.

STANDARD: Ihr größter Misserfolg?

Ceipek: Dass man das Potenzial, das in der Drehscheibe steckt, in Wien nicht erkannt hat. Man hätte viel mehr daraus machen können, das auf ganz Österreich ausweiten können. Dann wäre der Effekt viel nachhaltiger gewesen.

STANDARD: Was machen Sie in der Pension?

Ceipek: Ich habe einige Anfragen von Institutionen, ob ich als Konsulent arbeiten möchte. Unter anderem hat die bulgarische Regierung bei mir angefragt, ob ich Sozialarbeiter schulen könnte. Es geht auch um bessere Vernetzung von Sozialministerium und NGOs, und darum, Vorzeigeprojekte, die unter finanziellen Problemen leiden, zu retten. Das reizt mich sehr. Ich werde Mitte Mai in Bulgarien meine Zelte aufschlagen.

Norbert Ceipek (64) ist Sozialpädagoge und seit 1977 bei der Wiener Jugendwohlfahrt tätig. Der Tiroler leitete bis dato die "Drehscheibe", eine von ihm begründete Einrichtung der MA 11, die sich seit 1998 um unbegleitete ausländische Kinder von drei bis 18 Jahren kümmert. (INTERVIEW: Petra Stuiber, DER STANDARD, 28.3.2015)