"I walked down the street" und "I was walking down the street" bedeutet im Englischen etwas anderes. Das hat zur Folge, dass englischsprachige Personen eher die Bewegung einer Person wahrnehmen, während im Deutschen eher ihr Ziel im Zentrum steht.

Lancaster/Wien - "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", heißt es beim Philosophen Ludwig Wittgenstein. Doch wie wörtlich ist diese Behauptung zu nehmen? Kann es tatsächlich sein, dass wir in unterschiedlichen Sprachen die Umwelt verschieden wahrnehmen?

Offensichtlich ist, dass uns die Sprache nicht nur hilft, Dinge zu kategorisieren, sondern auch Einfluss darauf nimmt, wie wir das tun. Dieses linguistische Relativitätsprinzip wurde vor allem in den Arbeiten von Benjamin Lee Whorf vertreten, der behauptete, dass die grammatischen und lexikalischen Strukturen der eigenen Sprache Auswirkungen auf das Denken haben.

Russische Bezeichnungen für Blau

Existiert beispielsweise für eine Farbnuance kein Wort, dann nehmen wir diese Unterschiede auch nicht bewusst als eigenen Farbton wahr - oder tun uns schwerer, diese Farbnuancen zu unterscheiden. Das zeigte sich etwa bei einer Studie über die Wahrnehmung der Farbe Blau. Im Russischen gibt es eigene Begriffe für Hellblau und Dunkelblau, im Englischen und Deutschen nicht. Tatsächlich scheinen sich Russen leichter zu tun, Blautöne zu unterscheiden, als Deutsche oder Briten.

Andere Untersuchungen zur Einteilung von Gegenständen offenbarten ähnliche Unterschiede: So konnte in einer Studie gezeigt werden, dass japanische Muttersprachler im Vergleich zu englischsprachigen Personen Dinge eher nach dem Material als nach der Form gruppieren. Kinder mit koreanischer Muttersprache wiederum würden Bewegungen anders mit Ortsangaben verknüpfen als englische Kinder.

Kritiker dieser Studien argumentierten, dass diese Unterschiede nicht unbedingt mit sprachlichen Differenzen zu tun haben müssen, sondern auch kulturell begründet sein könnten. Um dieser Kritik zu entgehen, hat der Linguist Panos Athanasopoulos (Universität Lancaster) für seine Untersuchung im Fachblatt "Psychological Science" drei spezielle Vergleichsgruppen ausgewählt: 15 in Deutschland lebende Muttersprachler, 15 in Großbritannien lebende englische Muttersprachler sowie 30 zweisprachige Teilnehmer in beiden Ländern.

Mit diesen drei Personengruppen wollte der Linguist testen, ob und wie es sich auswirkt, dass im Englischen eine Verbkonstruktion existiert, die es im Deutschen nicht gibt und die durch das Anhängen der Endung "-ing" erreicht wird: "I walked down the street" bedeutet im Englischen etwas anderes als "I was walking down the street", womit man stärker auf den Vorgang selbst abstellt. Insbesondere bei den zweisprachigen Personen erhoffte man, die Effekte der Sprache direkt beobachten zu könne - je nachdem, in welcher Sprache sie dachten.

Für ihre Studie zeigten Athanasopoulos und sein Team den insgesamt 60 Versuchspersonen jeweils drei kurze Filme. Im ersten Videoclip war eine Person zu sehen, die eine Straße entlang auf ein parkendes Auto zuging. Ob die Person auch ankam, war jedoch unklar - und damit auch, ob die Person überhaupt dieses Ziel im Auge hatte.

Das war aber genau die Gretchenfrage der Forscher: Sie vermuteten, dass im Englischen - wegen der spezifischen Verbform, die angibt, dass gerade etwas am Geschehen ist - Handlungen als weniger zielgerichtet angesehen werden als im Deutschen. Um diese Hypothese zu überprüfen, sah jeder Proband zwei weitere Clips. Einer der Filme zeigte eine klar zielorientierte Handlung: Eine Person ging die Straße entlang und betrat dann ein Haus. Im anderen Clip sah man eine Person, die eine Landstraße entlang ging, ohne dass ein konkretes Ziel in der Nähe zu sehen war.

Der Weg ist das Ziel, isn't it?

Nach den drei Videos sollten die Probanden entscheiden, ob das erste Video mit dem parkenden Auto eher dem zweiten oder dem dritten ähnelte. Am Ende sollten sie die Szene des ersten Films auch verbal beschreiben. Wie erwartet, interpretierten die Testpersonen die gezeigten Inhalte der Filme je nach Sprache verschieden: Deutsche Muttersprachler waren in 40 Prozent der Fälle der Meinung, die Person sei gezielt auf das parkende Auto zugegangen. Bei den englischsprachigen Teilnehmern sahen dagegen nur 25 Prozent eine zielgerichtete Handlung. Die anderen 75 Prozent hatte nur eine Person wahrgenommen, die eine Straße entlangging.

Besonders aufschlussreich waren aber die 30 Zweisprachler, die je zur Hälfte auf Deutsch und auf Englisch getestet wurden. Und bei ihnen machte tatsächlich die Sprache den Unterschied aus: Lief der Test auf Englisch ab, reagierten sie wie englische Muttersprachler und sahen keine zielgerichtete Handlung. Wurde der Test auf Deutsch durchgeführt, interpretierten sie das Gesehene ähnlich zielorientiert wie die deutschen Probanden.

Für den linguistischen Relativisten Athanasopoulos ist damit offensichtlich, dass man in einer anderen Sprache auch eine andere Sicht auf die Welt hat: Selbst bei alltäglichen Beobachtungen würde die Sprache vorstrukturieren, wie wir das Wahrgenommene interpretieren. Das lässt sich auch alltagspraktisch nützen, wie das Wissenschaftsmagazin Science schreibt: Auf die Frage, wohin der Dieb geflüchtet ist, erhält man vermutlich eine akkuratere Antwort, wenn die Frage auf Deutsch gestellt wurde. Wenn man hingegen wissen will, wie der Dieb entkommen konnte, sollte man die Frage besser auf Englisch stellen. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 28.3.2015)