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Morten Kjaerum will in der EU soziale Menschenrechte stärker berücksichtigt sehen.

foto: ap/strauss

STANDARD: Eines der in Europa drängendsten Grundrechtsprobleme ist, dass im Mittelmeer Flüchtlinge ertrinken. Tausende sind schon gestorben, doch großzügige EU-weite Rettungsinitiativen gibt es nicht. Wie steht es angesichts dessen um die Glaubwürdigkeit der europäischen Grund- und Menschenrechtspolitik?

Kjaerum: Was im Mittelmeer passiert, ist eine Tragödie, und ja, das schadet dem Bild Europas als Kontinent der Menschenrechte sehr. Die Ursachen liegen in mangelnder innereuropäischer Solidarität. Die katastrophale Situation im Mittelmeer zeigt, wie weit der Weg zur EU-weiten Koordinierung zentraler politischer Fragen immer noch ist. Der Wille zu mehr Zusammenhalt muss von den Unionsmitgliedsstaaten kommen

STANDARD: Was müsste geschehen, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden?

Kjaerum: Es müssten zum Beispiel mehr legale Wege nach Europa eröffnet werden, derzeit vor allem für Syrerinnen und Syrer, sodass sie gar nicht erst in die lebensgefährlichen Boote steigen. Das würde die Profite der Schlepper verringern. Die EU-Grundrechteagentur hat dazu vor kurzem ein Papier veröffentlicht.

STANDARD: Zuletzt wurde auch wieder der Plan diskutiert, Aufnahmezentren für Flüchtlinge außerhalb der EU zu eröffnen. Was halten Sie davon?

Kjaerum: Keine schlechte Idee – wenn es gleichzeitig mehr Resettlement-Plätze (auf UN-Ebene koordinierte Aufnahmeprogramme für Menschen, denen der Flüchtlingsstatus vom UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR bereits zuerkannt wurde, Anm.) in der EU gäbe. Dann hätten die Menschen reelle Chancen auf Aufnahme in Europa. Darüber hinaus könnte man, etwa unter Syrien-Flüchtlingen in Jordanien, gezielt nach qualifizierten Arbeitskräften suchen, die in vielen EU-Staaten dringend gesucht werden. All diese Vorschläge liegen auf dem Tisch. Was politisch umgesetzt wird, ist Sache der Mitgliedsstaaten.

STANDARD: Ist das nicht unbefriedigend? Die Grundrechteagentur der EU kann grundrechtlich nichts durchsetzen und nur wenig Druck erzeugen.

Kjaerum: Ich denke, das Mandat ist in Ordnung. Die Agentur gibt den Mitgliedsstaaten und den Organen der EU in grundrechtsrelevanten Fragen faktengestützten Rat. Sie erstellt Studien und schlägt rechtliche Änderungen vor und leistet aktive politische Überzeugungsarbeit – mit der Macht fundierter Argumente. Um rechtlich etwas durchzusetzen, gibt es den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg und den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.

STANDARD: Wo sollten die inhaltlichen Schwerpunkte der künftigen Arbeit der Grundrechteagentur liegen?

Kjaerum: Da gibt es das Flüchtlings- und Migrationsthema. Dann – ganz wichtig – darf die Lage der Roma in der EU nicht aus den Augen verloren werden. Das sind immerhin sechs Millionen Menschen, die vielerorts in den 1990er-Jahren, in der Übergangsphase vom realen Sozialismus zur EU, ihre Lebensperspektiven verloren haben. Es muss dafür gesorgt werden, dass die vorhandenen EU-Fördermittel, etwa die Fonds für sozial benachteiligte Gruppen, die Roma auch erreichen. Hier geht es vor allem um bessere Bildung: Man darf nicht vergessen, dass in osteuropäischen EU-Staaten, etwa Rumänien und Bulgarien, schon in wenigen Jahren ein Drittel der Jugendlichen, die neu auf den Arbeitsmarkt stoßen, Roma sein werden.

STANDARD: Eröffnet das nicht ein großes Konfliktrisiko? Immerhin gibt es gerade in Osteuropa sehr viele Arbeitslose, und die Ablehnung der Roma ist stark.

Kjaerum: Die hohe Arbeitslosenrate wird sinken. Schon in wenigen Jahren wird es in Osteuropa und in Europa darüber hinaus vielfach dringenden Arbeitskräftebedarf geben.

STANDARD: Wirklich? Dass Arbeitskräftemangel bevorsteht, heißt es schon seit Jahrzehnten. In der Zwischenzeit ist die Arbeitslosigkeit massiv gestiegen.

Kjaerum: Doch, wirklich. Man muss sich nur die demografische Entwicklung anschauen. Schon jetzt herrscht in Europa und weltweit eine starke Konkurrenz um Arbeitskräfte, gelernte ebenso wie ungelernte. In Osteuropa ist das schon spürbar.

STANDARD: Derzeit jedoch ist die Arbeitslosigkeit hoch, und Minderheiten – nicht zuletzt Roma – halten zunehmend als Sündenböcke für Kriminalität und andere Probleme her. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?

Kjaerum: Zwischen dem Sündenbocksuchen und der in der EU betriebenen Austeritätspolitik besteht ein Zusammenhang. Menschen verarmen, suchen Gründe dafür, das stärkt Vorurteile gegen Roma, Islamophobie und Antisemitismus. Die Grundrechteagentur weiß das. Dieser Konnex sollte dringend weiter untersucht werden. Wenn ich am Ende meiner Zeit als Agenturdirektor etwa bereue, dann, dass wir in unserer Arbeit den sozialen und ökonomischen Grundrechten nicht mehr Beachtung geschenkt haben.

STANDARD: Warum bereuen Sie das?

Kjaerum: Weil die damit zusammenhängenden Entwicklungen für die EU bedenklich sind. In Reaktion auf zunehmende Diskriminierung verlassen gut ausgebildete Muslime, etwa türkischen Hintergrunds, die EU. Unter Juden gibt es ähnliche Tendenzen. Laut einer Erhebung der Grundrechtegantur aus dem Jahr 2013 denken fast die Hälfte aller Juden in den drei von uns untersuchten EU-Ländern an Auswanderung aufgrund ihrer Erfahrung mit Antisemitismus oder Angst vor Übergriffen. Das sind Menschen, die wir in Europa dringend brauchen. Insofern schwächt der Zorn auf Muslime und Juden ganz Europa.

STANDARD: Der Zorn auf Muslime hat nach den Pariser und Kopenhagener Islamistenanschlägen zugenommen. Jetzt werden in vielen Ländern neue Antiterrormaßnahmen diskutiert. Was sagen Sie zu dieser Entwicklung?

Kjaerum: Ich glaube, dass da einiges schiefläuft, denn Antiterrormaßnahmen, vor allem wenn sie eine bestimmte Gruppe oder Religion unter Generalverdacht stellen, spielen Terroristen voll in die Hände. Deren Ideologie ist immer die gleiche, egal ob es sich um Islamisten, Rechts- oder Linksextreme oder militante Tierrechtler handelt: Sie sehen sich als vom System Verfolgte. Jetzt wird das System noch härter zurückschlagen. Besser wäre, solche Kreise nicht zu Staatsfeinden Nummer eins zu stilisieren. Sondern ihnen, auch mit gesetzlichen Mitteln, einen Spiegel vorzuhalten, sodass sie erkennen, was sie in Wahrheit sind: schäbige Kriminelle. (Irene Brickner, derStandard.at, 2.4.2015)