Hirsche stehen da mit aus ladenden Geweihen. Im Hintergrund kuscheln sich ein paar Holzhütten aneinander. Jäger präsentieren stolz metallene Waffen. Büffelherden fliehen vor ihnen, und am Rande dieser Jagdszene wird unter Wehklagen der Umstehenden ein Toter bestattet.

Oft nur wenige Zentimeter groß sind die Zeichnungen mit solchen Motiven auf den Felsen bei Capo di Ponte im oberitalienischen Val Camonica. Bis zu 300.000 Felsgravuren bilden in diesem lombardischen Tal die größte Fundstelle für Petroglyphen in Europa. Die Felsbilder, die man erst vor rund 100 Jahren vor allem in der Talmitte entdeckt hat, galten von Anfang an als Sensation. Auch,weil sie die ersten und bislang einzigen Spuren eines Volkes sind, von dem bis dahin lediglich der Name bekannt war.

Eine Wissenschafterin bereitet die Felsgravuren für die digitale Erfassung vor.
Foto: Alberto Marretta / Parco Archeol

Fast 2000 Jahre blieben die Camunen vergessen, dann legte ein Erdrutsch jene Felsen frei, auf denen man die Zeichnungen entdeckte. Wie lange die Gravuren an der Luft erhalten bleiben, wagt allerdings niemand vorauszusagen. Eine Gruppe europäischer Wissenschafter unter österreichischer Beteiligung hat deshalb gerade begonnen, das gesamte Tal mithilfe von Drohnen und Scannern zu erfassen. In einer bisher einzigartigen Aktion sollen nun alle Zeichnungen digitalisiert werden.

Handel mit den Griechen

Das erscheint auch deshalb so bedeutsam, weil bislang niemand weiß, woher die Camunen gekommen sind. Verschiedene Details in den Bildern deuten auf den Donauraum hin. Doch höchstwahrscheinlich aus dem antiken Griechenland stammte die Art der im Val Camonica verwendeten Webstühle. Gleichzeitig wurden im griechischen Mykene Waffen aus dem Val Camonica gefunden.

Im völligen Gegensatz zur kulturhistorischen Bedeutung steht der touristische Bekanntheitsgrad dieses Tales und seines Nationalparks. Dabei hätte der Parco Nazionale delle Incisione Rupestri samt Umgebung alle Voraussetzungen, neue Entdecker anzuziehen. Mit ursprünglichen Dörfern wie Ceto, Cimbergo oder Paspardo, die vom morbiden Charme des Verfalls profitieren, und Bauwerken, die ganze Kunstführer füllen könnten, gleicht das Tal einer Schatzkammer, deren Wächter noch in tiefem Schlaf liegen.

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Mit ursprünglichen Dörfern wie Ceto, Cimbergo oder Paspardo, die vom morbiden Charme des Verfalls profitieren, gleicht das Tal einer Schatzkammer, deren Wächter noch in tiefem Schlaf liegen.
Foto: picturedesk / Alberto Nardi

Dass es – vom eiligen Durchgangsverkehr einmal abgesehen – im Tal so gut wie keine Gäste aus dem Ausland gibt, mag am Eindruck liegen, die Menschen hätten das Val Camonica schon vor langer Zeit aufgegeben. Im Mittelalter hat das Erz dem Tal Reichtum gebracht. Die vielen Palazzi der Eisenherren künden davon. Doch mit dem Ende der Eisenverarbeitung scheint auch die Zeit der zweiten Hochblüte des Val Camonica vorbei.

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Im Mittelalter hat der Erzabbau dem Tal Reichtum gebracht. Die vielen Palazzi - hier eine Exemplar in indischem Stil - künden davon.

Um die Zeugnisse der camunischen Kultur zu erhalten, genügten vielleicht sogar ein wenig Erde und Moos. Doch die unzähligen Sakralbauten mit ihren Fresken, die Palazzi und die mittelalterlichen Ortsbilder schreien geradezu nach Geldern für die Erhaltung. Von Nächtigungsgästen werden sie eher nicht kommen. Das offizielle Zimmerverzeichnis listet gerade einmal drei Unterkünfte im gesamten Tal. (Christoph Wendt, DER STANDARD, 14.04.2015)