Ein Männerensemble spielt Mütter, Väter, Kinder - und eben auch Hunde: in Gogols "Die toten Seelen".

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Theater- und Opernregisseur Kirill Serebren nikow leitet das Gogol Center Moskau.

Foto: Gogol Center

In Riesenschritten führt Kirill Serebrennikow durch sein Theater. Hinter jeder Tür, die er eilig aufreißt, blicken aufgeschreckt Theaterstudenten heraus, die gerade an irgendeiner Szene feilen. Das Ivan-Rebroff-Timbre des Chefs wirkt Wunder, alles gehorcht. Serebrennikow ist ein furioser Intendant. 2013 hat ihn die Moskauer Stadtregierung mit der Neuausrichtung des Gogol-Theaters beauftragt. Ja, mach ich, sagte er, aber nur, wenn ich alles umkrempeln kann. Und es geschah.

Das Gogol-Theater war bis 2012 ein Theaterhaus im Sowjetstil mit verstaubtem Repertoire, so Serebrennikow im Standard-Gespräch. Das Publikum blieb weg. Dieser tristen Entwicklung gebot der junge Moskauer Kulturminister Alexander Kibowski (Jahrgang 1973) Einhalt. Die Bestellung Kirill Serebrennikows hat sich bisher bezahlt gemacht, denn der 45-Jährige versteht sein Geschäft.

Das Foyer des nunmehr als Gogol Center firmierenden Hauses in einer krummen Abwärtsgasse unweit des Kurskaja-Bahnhofs ist prall gefüllt. Dabei liegt die Uraufführung der Toten Seelen bereits ein Jahr zurück. Die Bühnenadaption von Nikolai Gogols Roman kommt zu den diesjährigen Wiener Festwochen (Volkstheater, 20.-23. Mai, jeweils 19.30 Uhr, in russischer Sprache, mit deutschen Übertiteln). Es ist Serebrennikows zweiter Wien-Besuch in kurzer Zeit; seine Berliner Uraufführungsinszenierung von Olga Neuwirths Oper American Lulu aus dem Jahr 2012 gastierte vergangenen Herbst ebenda.

Im Foyer in Moskau: gedrängt stehend junge Menschen, alles bio an der Bar. Die Menschen hier sind schick und bestens gelaunt. Dass hier vor wenigen Jahren noch Sowjetstimmung herrschte, kann man nur noch an der strengen Architektur des Gebäudes erahnen. Derzeit wird das einst repräsentative Sowjettheater vom internationalen Bobo-Stil überzogen: Vintagemöbel säumen die Gänge, Ziegelwände bleiben unverputzt, eine Buchhandlung ist eingezogen, auch eine Fotoausstellung. Das Direktionszimmer wird von bunten Totenköpfen geschmückt; und durch ein verspiegeltes Panoramafenster lässt sich von dort das Geschehen im Foyer überblicken.

Das Gogol Center soll mehr sein als nur eine Sprechtheaterbühne, ein "Ort der Kommunikation", so Serebrennikow. Es gibt auch Konzerte, Diskussionen, Kinovorstellungen. Mit einem klaren Bekenntnis zum Film hat der Regisseur vor zwei Jahren sein Haus auch eröffnet, einer Theatertrilogie, die auf drei wichtigen europäischen Filmen basiert: Fear (nach Fassbinders Angst essen Seele auf), The Idiots (nach Lars von Triers Idioten) und Brothers nach Luchino Viscontis Rocco und seine Brüder. Letztere Arbeit geht diesen Sommer zum Festival nach Avignon.

Zwei Bühnen beherbergt das Gogol Center, einmal 650 Plätze, einmal 150. Während der Stalin-Zeit unterstand das Haus dem Verkehrsminister. Zwecks patriotischer Festigung des Imperiums wurden damals seine Schauspielgruppen mit entsprechendem Programm in der Eisenbahn über Land geschickt. Von dieser imperialen Kulturverwaltung künden heute noch die hohen Flügeltüren in den Theatergängen und die großen Zifferblätter der Uhren.

Serebrennikows Inszenierung ist witzig und provokant in ihren Behauptungen, sie fügt sich in westeuropäische Ästhetiken erstaunlicherweise unauffällig ein. Am deutlichsten sind in den Toten Seelen noch die Spuren des absurden Theaters erkennbar. Gogols Roman ist eine Ansammlung russischer Typen. Das kann auch wehtun, bleibt meist aber heiter. Je jünger das Publikum, umso leichter hat es lachen.

Mit einem herzhaften Prolog (in dem fünf Männer ausführlich ein kaputtes Wagenrad diskutieren, anstatt das Problem zu beheben) öffnet Serebrennikow die verzwickte Welt des Finanzbeamten Tschitschikow. Die hintertriebene Krämerseele verfällt auf die Idee, aus den Versicherungsakten jüngst verstorbener Leibeigener Kapital zu schlagen. Bei Gutsbesitzern wirbt er um die jeweiligen Akten. Es kommt zu himmelschreienden Begegnungen.

Ein neunköpfiges Männerensemble spielt sämtliche Rollen: Mütter, Väter, Kinder, Hunde. In dicken Strumpfhosen und Reifröcken, mit blinkenden Metallgebissen oder Larven bilden sie das Kaleidoskop dieser russischen Landbevölkerung. Sie spannen sich Pferdeköpfe vor die Brust, wenn sie losreiten. Oder treten aus dem tief nach hinten reichenden Pressspankubus hervor an das T-Bone-Mikrofon, wenn es etwas Wichtiges zu singen gibt (Komposition: Alexander Manotskow).

Junge Autoren

"Die Moskauer Theaterszene ist im Aufblühen", sagt Serebrennikow. Es gebe derzeit viele gute Häuser, die staatlich gefördert werden, etwa das Moscow Art Theatre oder auch das Lenkom-Theater. Das (regierungs)kritische Moskauer Theater teatr.doc musste zwar seinen Standort aufgeben, hat den Betrieb inzwischen aber an anderer Adresse wiederaufgenommen. Private Geldgeber sind aber auch Serebrennikow schon abhandengekommen. "Gewisse offizielle Personen haben Sponsoren angeraten, ihr Geld anderweitig zu verwenden. Leider. Das ist der russische Weg".

Kirill Serebrennikow fühlt sich den schwelenden Themen der Gegenwart verpflichtet. Seine Autoren heißen Wiktor Jerofejew, Sachar Prilepin oder Marius von Mayenburg. Einen Shakespeare gibt es auch. (REPORTAGE: Margarete Affenzeller aus Moskau, DER STANDARD, 17.4.2015)