Kultur zwischen Avantgarde und Tradition: Pilsen 2015.

Foto: www.plzen2015.cz

Eine übersichtliche Stadt ist Pilsen nicht. Die Illusion, sie könne sich einem auf den ersten Blick erschließen, kommt gar nicht erst auf. Fünf Flüsse durchkreuzen die knapp 170.000 Einwohner zählende Braumetropole im Westen Tschechiens. Rund um den Bahnhof herrscht ein Gewirr aus Brücken, Dämmen, Gleisanlagen und mehrspurigen Fahrbahnen. Die Straßen hier heißen Schlachthofgasse, Bei der Brauerei oder An der Glashütte - Hinweise auf das industrielle Erbe der Europäischen Kulturhauptstadt 2015.

Etwas unübersichtlich erscheint auch das vollgepackte Kulturprogramm. Besucher aus dem Ausland beklagen zudem, dass es Informationsbroschüren oder Texttafeln in Ausstellungen oft nur auf Tschechisch gibt. Wer sich im Veranstaltungsdschungel orientieren will, geht am besten auf den zentralen Platz der Republik (Námestí republiky). Gegenüber der gotischen St.-Bartholomäus-Kathedrale steht der "Meeting Point", ein Container-Kubus mit Infocenter, Radiostudio und Caféterrasse auf dem Dach. Einen 200-seitigen Veranstaltungskatalog gibt es hier auch auf Deutsch.

In einer Ecke des Platzes findet man die Jirí-Trnka-Galerie, Heimstätte eines der Programmschwerpunkte. Der gebürtige Pilsner Jirí Trnka (1912- 1969) gehört zu den wichtigsten Vertretern des europäischen Animationskinos. Auch politisch setzte er Akzente. In seinem Kurzfilm Die Hand aus dem Jahr 1965 führt ein kleiner Harlekin aus Holz einen aussichtslosen Kampf. Eine Hand, größer als er selbst, dringt in sein Zimmer ein und zwingt ihm ihren Willen auf. Mal kommt sie brutal durchs Fenster, mal subtil als Bild in der Zeitung. Am Ende ist der zunächst filmtechnisch animierte Holzharlekin nur noch Marionette; die Fäden zieht die Hand.

Der Film wurde 1969, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, verboten. In der umfangreichen Ausstellung Jirí Trnkas Atelier (bis 10. 5.) laufen Ausschnitte daraus in Endlosschleife. Zu sehen gibt es auch die Puppe des braven Soldaten Schwejk aus Trnkas Verfilmung des berühmten Romans von Jaroslav Hasek.

Die Kulturhauptstadt 2015 will aber kein Kaleidoskop dessen sein, was Nostalgikern als typisch tschechisch gilt: "Pilsen ist in erster Linie eine Industriestadt", bekräftigt Katerina Kombercová vom Presseteam. "Das hat auch bei der Auswahl der Locations eine maßgebliche Rolle gespielt."

Kreativzone in der Remise

Petr Forman, Sohn von Starregisseur Milos Forman und künstlerischer Leiter des Festivals, hat deshalb eine aufgelassene Bus- und Straßenbahnremise zum Epizentrum des Kulturprogramms gemacht. Nächstes Wochenende werden dort, im Depo 2015, zwei Ausstellungen eröffnet: Mit Domus - Wallfahrtsort des Designs wollen führende tschechische Designer wie Jirí Príhoda oder Maxim Velcovský gemeinsam mit mehr als 20 Kollegen aus der ganzen Welt kontemplative Räume schaffen, die auch moderner Ausgangspunkt sein sollen für den Besuch barocker Architekturdenkmäler in der Umgebung.

In der zweiten Ausstellung namens Restart präsentiert der tschechische Bildhauer Cestmír Suska monumentale Skulpturen aus Altmetall - eine Hommage an den Veranstaltungsort und seinen neuen Daseinszweck. Auch eine Nutzung des Geländes als "Kreativzone" über 2015 hinaus ist geplant. Wenn es gelingt, das ambitionierte Vorhaben umzusetzen, gibt es vielleicht eine Chance für einen Stadtteil zwischen Industriearchitektur und Brachland. (Gerald Schubert, DER STANDARD, 18./19.4.2015)