"Den perfekten Entwurf gibt es nicht. Es gibt immer Dinge, die man besser machen kann." Dafür gebe es dann eine nächste Runde, sagt Matteo Thun.

Foto: Peter Rigaud

"Ich mag Gegenstände, die in einen unmittelbaren Kontakt mit dem Körper treten." Espressotasse für Meinl...

Foto: Santi Caleca

... und WC für Axent.

Foto: Axent

STANDARD: Es gibt sehr viele Menschen, die einen Matteo-Thun-Gegenstand in der Wohnung herumstehen oder herumliegen haben. Wie viele haben Sie?

Matteo Thun: Null. Ich bin allergisch auf meine eigenen Dinge und brauche Abstand zu den Bildern, die ich täglich produziere. Ich will nicht von meinen eigenen Entwürfen umgeben sein - weder in der Architektur noch im Design. Das wäre ein Verhaften in der Geschichte und Gegenwart und würde nur die Konfiguration neuer Gedanken stören.

STANDARD: Wie viele unterschiedliche Designprodukte haben Sie bis heute entworfen?

Thun: Alles zusammen? Ich würde sagen, das ist eine quantitativ unüberschaubare Schwemme an Dingen. Ich arbeite seit über 30 Jahren, da kommt natürlich einiges an Entwürfen zusammen. Aber ich habe aufgehört zu zählen. Und seit 1995 entwerfe ich nur noch anonym.

STANDARD: Das heißt?

Thun: Es steht nirgends mehr mein Name drauf. Ich bin ein entschiedener Gegner des Autorendesigns und der Autorenarchitektur.

STANDARD: Das sagen ausgerechnet Sie? Ihr Name steht doch in jedem Lifestyle-Magazin!

Thun: Ich glaube an eine Qualität, die ohne Autorenschaft auskommt. Vor diesem Hintergrund habe ich die Bewegung Memphis als eine Art Schreckperiode empfunden. In den Jahren von 1981 bis 1984 waren wir mit unseren Memphis-Entwürfen in allen Museen der Welt vertreten und wurden regelrecht musealisiert.

STANDARD: Sie haben die Memphis Group 1981 unter anderem mit Ettore Sottsass gegründet und in der Zeit Möbelstücke, Lichtobjekte, Keramiken und Stoffe entworfen. Wie haben Sie denn Memphis persönlich erlebt?

Thun: Im Rückblick betrachtet war Memphis ein Verursacher von gigantischen Missverständnissen. Nicht zuletzt gab es auch Missverständnisse an der Hochschule in Wien. Missverständnisse von jungen Leuten, die glaubten, Freiheit und deregulierte Zeichen könnten in jede Richtung ausschweifen. Und diese missverstandene Freiheit hat dazu geführt, dass Memphis sehr schnell in ein schlechtes Licht gerückt wurde. Die Unterscheidung zwischen echtem Memphis und postmodernen Memphis-Epigonen war sehr schwierig. Ich kann mich erinnern, dass 1983 bei Ikea eine exakte Kopie eines Tee- und Kaffeeservice von Memphis in den Regalen stand.

STANDARD: Und? Wie reagiert man darauf?

Thun: Darauf kann man nur reagieren, indem man Memphis offiziell verlässt.

STANDARD: Welchen Stellenwert hat Memphis für Sie heute?

Thun: Memphis hat nach wie vor einen hervorragenden Stellenwert im Ausloten ästhetischer Grenzwerte. Nach 30 Jahren Erfahrung und mit einer entsprechenden Distanz zu den Dingen kann ich beurteilen, dass Memphis-Möbel Energie und Lebensfreude versprühen. Und das ist sehr positiv.

STANDARD: Es dauert 30 Jahre, bis sich eine gewisse Distanz einstellt?

Thun: Ja, das ist ein Prozess, der viele Jahrzehnte dauert. In der Architektur gibt man der Beurteilung eines Werkes viele Jahre Zeit. Bei einer kleinen Espressotasse macht man den Fehler, dass man sofort eine Aussage über die Qualität des Objekts treffen möchte. Das ist ein Fehler. Das braucht Zeit.

STANDARD: 30 Jahre für eine Espressotasse?

Thun: Mindestens.

STANDARD: Sie haben schon viele unterschiedliche Espressotassen entworfen. Ist da die perfekte Tasse schon dabei?

Thun: Die nächste Tasse ist immer die bessere.

STANDARD: Können Sie diesem Gegenstand noch einen gewissen Reiz abgewinnen?

Thun: Ja. Ich mag überhaupt alle Gegenstände, die in einen unmittelbaren Kontakt mit dem Körper treten. Am meisten faszinieren mich am Design die Themenbereiche Essen und Defäkation. Und daher entwerfe ich am liebsten Besteck und Klos. Einen Löffel, eine Gabel, die steckt man in den Mund. Noch intimer geht es kaum. Der Spielraum, hier etwas zu gestalten, ist minimal, denn die Vorgaben und Anforderungen sind sehr stringent. Und das ist für mich sehr reizvoll. Wir haben jetzt ein Dusch-WC für die Firma Axent entworfen. Es ist hygienisch, säubert gründlich, und niemand benötigt Papier. Die wirkliche Aufgabe war, ein intuitives, einfaches Bedienen zu ermöglichen. Das Design ist so einfach wie möglich, die Technik bleibt verborgen.

STANDARD: Mögen Sie Uhren?

Thun: Nicht mehr. Ich kann keine Uhren mehr sehen.

STANDARD: Von 1990 bis 1993 waren Sie Creative Director bei Swatch. In einem Interview vor einigen Jahren meinten Sie: "Ich habe sicher einige Tonnen Plastikuhren auf dem Gewissen. Man kann ja nicht alles richtig machen im Leben."

Thun: So ist es! Ich kann mich erinnern: Ich war damals ziemlich frustriert über die Schwierigkeit, mit einer breiten Masse in Kontakt zu treten. Und ich habe mich so danach gesehnt, ich hatte so ein großes Bedürfnis, Millionen von Menschen das Leben zu verbessern, dass ich mir dachte: Es reicht schon, wenn es nur eine Kleinigkeit ist! So wie zum Beispiel eine kleine, billige Plastikuhr, die damals 50 Schweizer Franken gekostet hat. Damit gibt man jungen Leuten die Möglichkeit, auch mit wenig Geld eine Identität zu finden. Ich war damals wie geblendet von dieser Vision.

STANDARD: Wodurch wurde diese Vision getrübt?

Thun: Es gibt Dinge, die man im Nachhinein positiv beurteilt, und es gibt Dinge, die man weniger positiv beurteilt. Ich habe 1990 das Fertighaus-System "O sole mio" für Griffner entwickelt, ohne zu wissen, dass es zum meistkopierten Fertighaus der nächsten zehn Jahre werden würde. Ich habe also eine Art Manifest der modernen Nachhaltigkeit geschaffen. Gleichzeitig aber war ich dafür verantwortlich, dass bei Swatch die Verkaufszahlen um ein Vielfaches nach oben geschossen sind. Die Produktionszahlen haben sich von Jahr zu Jahr verdoppelt. Das eine verträgt sich mit dem anderen nicht so gut, und daher habe ich "O sole mio" dem Plastik vorgezogen.

STANDARD: Ärgert es Sie, dass "O sole mio" so oft kopiert wurde?

Thun: Nein, das ehrt mich eher.

STANDARD: Machen Sie heute auch noch Fehler, so wie damals mit Swatch?

Thun: Der Beruf des Architekten besteht aus nicht enden wollenden Fehlerkorrekturen, die man macht, um weiterzukommen. Man baut ein Modell, findet einen Fehler, macht wieder ein Modell, entdeckt dann wieder einen Fehler, und so geht das so lange weiter, bis man glaubt, keine Fehler mehr zu sehen. Nur so findet man neue Lösungen.

STANDARD: Wann hören die Fehler auf?

Thun: Niemals. Den perfekten Entwurf gibt es nicht. Es gibt Kollegen, die sagen: "Was für ein großartiger Moment das ist, wenn ich am Ende mein fertiges Bauwerk betrete!" Da werde ich total neidisch. Ich kann das nicht. Es gibt immer Dinge, die man verbessern kann. Ich gehe in ein Haus von mir rein, und das Erste, was ich sehe, sind Fehler. Ich bin dann richtig down.

STANDARD: Was machen Sie gegen dieses Gefühl der Niedergeschlagenheit?

Thun: Ich mache es in der nächsten Runde besser.

STANDARD: Nehmen wir einmal eine hypothetische Persönlichkeitsspaltung durch: Würde der Bauherr Matteo Thun dem Architekten Matteo Thun bei so vielen Fehlern jemals einen Auftrag erteilen?

Thun: Absolut! Ich bin davon überzeugt, dass unsere Formel bei zunehmender Rezession und Reorganisation der freien Wirtschaft wesentlich schneller und preisgünstiger ist als das angelsächsische Modell, wo der Architekt das Projekt an einen Innenarchitekten weitergibt, und der Innenarchitekt holt dann einen Lichtplaner mit ins Boot, und der Lichtplaner sucht dann noch einen anderen Lichtplaner, der Decorative Lighting macht, und am Ende kommt dann der Stylist, der das alles schön ausstattet. Die Akkumulation führt zu längeren Bauzeiten und zu höheren Kosten. Ich bin ein Freund der ganzheitlichen Lösung. Ich bin ein Freund der Beauty of Economy.

STANDARD: Das heißt?

Thun: Unser Büro bietet sämtliche Disziplinen in den Bereichen Architektur, Interior und Produktgestaltung an, vom Anfang bis zum Ende. Daher fließen in jeden Entwurf und in jede einzelne Entscheidung Überlegungen zu Energieersparnis, Nachhaltigkeit und Technik ein. Das spart Zeit und löst Schnittstellen. Im Englischen gibt es dafür den schönen Begriff des Holistic Approach.

Architektur mit einem holistischen Ansatz: Styling für Vapiano.
Foto: Georg Bodenstein

STANDARD: Wenn Sie auf Ihr bisheriges Schaffen zurückblicken: Würden Sie sich eher als Architekten oder als Designer bezeichnen?

Thun: Ich war nie Designer. Ich lehne diesen Begriff zutiefst ab. Das ist nichts anderes als eine Tautologie. Design kommt von disegnare, und das bedeutet zeichnen. Und zeichnen tun alle: Architekten, Designer, Ingenieure, Planer aller Richtungen.

STANDARD: Aber Sie haben in Ihrem Büro doch eine eigene Designabteilung.

Thun: Ja, aber da arbeitet ein Team von Produktingenieuren. Der Begriff Designabteilung ist eine Kompromisslösung, damit klar ist, dass wir auch Produkte gestalten.

Ebenfalls mit holistischem Ansatz: Styling für das JW Marriott Venice Resort & Spa.
Foto: Matteo Thun Partners

STANDARD: Viele Unternehmen, Hoteliers und Investoren setzen auf die Karte Matteo Thun. Warum?

Thun: Weil sie ein Produkt oder ein Projekt aus einer Hand bekommen, das von A bis Z schlüssig ist. Das ist Qualität.

STANDARD: Und das hat nichts damit zu tun, dass Matteo Thun Matteo Thun ist?

Thun: Das glaube ich nicht. Diese Zeiten sind vorbei. Der Zeit- und Kostendruck hat in der Wirtschaft derart zugenommen, dass in den Unternehmen immer häufiger die Vorstandsvorsitzenden und Geschäftsführer das Sagen haben und nicht die kulturell Illuminierten.

STANDARD: Befindet sich die Baukultur im Untergang?

Thun: Das mag vielleicht traurig klingen, aber die Realität im sinkenden Schiff Abendland ist, dass wir immer geringere Bauvolumina und Bauaufgaben haben werden. Europa ist im Großen und Ganzen fertiggebaut. Hier sollten wir uns mit der Sanierung von Vorhandenem beschäftigen. Ich denke, dass sich die bauliche Zukunft in Ländern wie Südkorea, China oder den Emiraten abspielen wird. Fragt sich nur, was das für uns bedeuten wird.

STANDARD: Dass Sie in Zukunft weite Reisen unternehmen werden.

Thun: Ungern. Ich bevorzuge es, Projekte in Europa anzunehmen und in ein paar Flugstunden am Platz zu sein. Vor vielen Jahren einmal hatte ich ein Büro in Riad, und ich habe nie, und zwar wirklich kein einziges Mal in all diesen Jahren, verstanden, warum sich meine Kunden so und nicht anders entschieden haben. Das war frustrierend. Daher bevorzuge ich es, in meinem Kulturkreis zu arbeiten und mit den Menschen zu kommunizieren. (Wojciech Czaja, Open Haus, 6.5.2015)