STANDARD: Eine Langzeitbeobachtung: Seit 2010 bis vor ein paar Wochen wurde ein Grexit, also das Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion, von praktisch allen ernsthaften Entscheidungsträgern in EU-Institutionen, bei den Regierungen, auch im EU-Parlament de facto für unmöglich gehalten. Das hat sich geändert. Der Grexit gilt vielen heute als eine realistische Option, man beschäftigt sich ernsthaft damit. Stimmt dieser Befund?

Weber: Ich würde sagen, dass diese Beobachtung leider richtig ist. Ich würde aber auch festhalten, dass wir heute von einer Griechenland-Krise reden. Vor fünf Jahren haben wir noch über eine Eurokrise gesprochen. Wir haben seither große Fortschritte gemacht. Unsere Währung steht heute deutlich stabiler da als vor fünf Jahren. Die Ursache ist auch, dass wir heute in Athen eine in Teilen extremistische Regierung in der Verantwortung haben. Es ist zum ersten Mal so, dass zwar nicht die gesamte Regierung, aber Teile unter extremistischem Einfluss stehen.

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Manfred Weber: Wollen Griechen im Euro halten, am Zug ist Athen.
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STANDARD: Wen meinen Sie da, die Rechten, die Linken?

Weber: Beide, die Rechten von der Anel, aber es gibt auch die linksradikalen Teile der Syriza, die einen unguten Einfluss auf das Handeln der Regierung haben. Und das führt zu diesem Verhalten, das Probleme macht.

STANDARD: Ein Grexit wäre möglich, weil die Eurozone als Ganzes nicht mehr in Gefahr ist, ist das der Unterschied?

Weber: Natürlich ging vor fünf Jahren die Hauptdebatte darum, wie man die einzelnen Eurostaaten stabilisiert, weil man große Sorge wegen Ansteckungsgefahren hatte, mit einem Gesamtschaden für den Währungsraum. Dieser Effekt wird heute nicht mehr so massiv gesehen. Trotzdem gibt es gute Argumente dafür, Griechenland im Euro zu halten. Das ist unser Ziel. Der Schaden bei einem Euroaustritt wäre nach wie vor groß, sowohl wirtschaftlich wie politisch. Deshalb müssen die Schritte sorgfältig abgewogen werden. Aber es gilt auch: Ja, es wird heute ernsthafter über einen Grexit diskutiert.

STANDARD: Was ist Ihre persönliche Einschätzung, wie es weitergeht?

Weber: Nach wie vor tun alle Europapolitiker, die in der Verantwortung stehen, alles, um einen Euroaustritt zu verhindern. Aber es ist auch klar, dass wir ohne einen Partner in Griechenland, der entsprechend verantwortlich handelt, nicht in der Lage sind, dieses Ziel einfach zu erreichen. Deshalb liegt der Ball bei der griechischen Regierung, in Athen.

STANDARD: Sie schließen nicht aus, dass das Hilfsprogramm nicht abgeschlossen werden kann?

Weber: Die Fakten liegen auf dem Tisch. Griechenland braucht Geld, das bekommen sie nach Lage der Dinge nur von den Europartnern. Und die Europartner werden nur dann weiteres Geld auf den Tisch legen können, wenn die Konditionalität eingehalten wird. Diese Fakten kennt jeder, und jeder, der verantwortlich ist, muss auf dieser Grundlage handeln. Konditionalität heißt: Es gibt Hilfe nur, wenn Griechenland Eigenanstrengungen macht. Das ist der zentrale Punkt der gesamten Eurorettungspolitik. Da brauchen wir aus Athen das klare Signal: "Wir haben verstanden, wir sind bereit zu liefern."

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Tsipras muss liefern, meint Weber.
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STANDARD: Besonders auffällig am Streit ist die Polarisierung zwischen Deutschland und Griechenland. Was ist da schiefgelaufen, dass dieser Eindruck besteht?

Weber: Es liegt vor allem daran, dass die griechische Regierung in den vergangenen Wochen alles getan hat, um diesen Konflikt hochzuziehen, ob es um Reparationsforderungen oder andere Debatten geht. Das kann man alles diskutieren. Aber es hat mit den jetzt zu lösenden Problemen nichts zu tun. Leider will die griechische Regierung über ihre eigenen Probleme hinwegtäuschen, indem sie die Geister der Vergangenheit zurückholt.

STANDARD: Das gab es ja auch schon vorher.

Weber: Der Effekt ist, dass das Prinzip der Konditionalität in der Eurozone heute stabiler verteidigt wird als vorher. Es ist heute so, dass die gesamte Eurozone gegen Griechenland steht. Es ist nicht Deutschland isoliert in seiner Haltung, auch nicht Österreich, auch nicht Finnland. Isoliert ist Griechenland. Das ist wichtig zu sehen.

STANDARD: Aber man muss doch sachlich eingestehen, dass zuvor auch schon die konservative Regierung unter Premier Samaras, Ihrem Parteifreund, gescheitert ist, auch er hätte das zweite Hilfsprogramm nicht erfolgreich abschließen können. Ist es nicht so?

Weber: Ich verteidige bei jeder Gelegenheit das Prinzip, dass nicht "die Griechen" das Problem sind, wie leider landläufig argumentiert wird, wenn gesagt wird, die Griechen können das nicht. Das sehe ich nicht so. Die Vorgängerregierung hat immerhin einen Primärüberschuss im Haushalt erreicht. Sie hatte die Amtsgeschäfte mit einem Staatsdefizit von zehn Prozent des Inlandsprodukts übernommen. Es gab wieder Wachstum, der Tourismus lief gut, es gab Vorzeichen einer Trendwende, die waren da. Jetzt haben wir eine extreme Regierung, die binnen Tagen das Vertrauen von Investoren verspielt. Heute will wieder keiner nach Griechenland gehen, um dort zu investieren.

STANDARD: Sie betonen immer, Teile der Regierung seien radikal. Nun gibt es viele, die sagen, das treffe auf Premier Tsipras nicht zu. Haben Sie die Erwartung, dass er die Politik gemäßigter gestaltet?

Weber: Es gibt mittlerweile eine sehr verschobene Wahrnehmung von politischer Mitte. Wenn man Ministerpräsident Tsipras in der Mitte sieht, dann stimmt was nicht. Ich finde, dass man diese Regierung viel zu vorsichtig anfasst. Es ist inakzeptabel, dass Tsipras mit Leuten eine Regierung bildet, die sich antisemitisch äußern. Er hätte Alternativen gehabt. Die Frage ist: Wie kommt Griechenland zu einer parlamentarischen Mehrheit, die die Konditionalität der Hilfen akzeptiert? Das ist die offene Frage. Das muss Tsipras verantworten, ganz persönlich.

STANDARD: Wie schätzen Sie Tsipras ein, welche Position hat er?

Weber: Ich nehme eine gespaltene Positionierung wahr. Er sagt in Brüssel, in den EU-Räten Dinge zu, die er dann zu Hause bei seinen Statements nicht wiederholt. Das Erste, was er tun müsste, wäre, das einzuhalten, was er zusagt, was vereinbart worden ist, wie zum Beispiel die Verlängerung des Hilfsprogramms. Er erzählt den Bürgern zu Hause etwas anderes. Tsipras muss aufhören, Wahlkampf zu machen, muss Regierungschef seines Landes sein, der die Verpflichtungen einhält.

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Jean-Claude Juncker setzte mehr auf Investitionen, findet der EVP-Fraktionsführer.
Foto: ap/Virginia Mayo

STANDARD: Sie sind Deutscher, aber europäischer Politiker. Was müsste Ihr Land tun, damit der Eindruck einer Spaltung der Eurozone wieder schwächer wird?

Weber: Alle sind gefordert, auch Deutschland. Die Antwort, die wir als Europäische Volkspartei gegeben haben, mit Juncker als Kommissionspräsident, mit der Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten, das ist ein Dreiklang. Wir brauchen Haushaltsdisziplin, die Kraft zu Strukturreformen, das war die Botschaft im vergangenen Jahr, und wir brauchen als weiteres Element Investitionen in Europa. Deutschland hat Schwächen in der Infrastruktur, wir müssen mehr in die Zukunftsstrukturen des Landes investieren. Jeder muss auf seiner Baustelle arbeiten. Andere Länder müssen mehr Strukturreformen durchführen.

STANDARD: Von Gemeinsamkeit ist aber wenig die Rede, woher kommt diese Spaltung?

Weber: Wir sollten aufhören, dass jeder dem anderen den schwarzen Peter zuschiebt. Wenn jeder seine Aufgaben erledigt, beachtet, was im Verfahren des europäischen Semesters drinsteht als Empfehlung an die Länder, um die Eurozone fit zu kriegen, dann wären wir schon viel weiter. Der dritte Pfeiler, die Notwendigkeit von Investitionen, der ist mit Juncker stärker geworden, das wird jetzt ernster genommen.

STANDARD: Ist das so, hat Juncker bereits weggedreht vom Diktum des strikten Sparens? Oder ist das nur Gerede?

Weber: Juncker geht einen eigenen Weg, keine Frage. Das erwarte ich auch von ihm. Er ist als gemeinsamer Spitzenkandidat der EVP angetreten, er hat ein demokratisches Mandat für seine Arbeit, und jetzt soll er auch führen. Ich würde nicht sagen, dass er auf Distanz zu früheren Vereinbarungen geht, er war Eurogruppenchef. Von der Notwendigkeit der Haushaltsdisziplin braucht man ihn nicht zu überzeugen, das hat er mitgestaltet. Aber er ergänzt die dritte Säule, das ist ein wichtiger Impuls. Der Rat hat das einstimmig beschlossen.

STANDARD: Sollte Deutschland von seiner Oberlehrerrolle etwas abrücken? Sie schienen Juncker näherzustehen als Merkel, jetzt werden Sie sagen, zwischen die beiden passt kein Blatt Papier, aber das glaubt Ihnen niemand.

Weber: (lacht) Genauso würde ich es formulieren. Ich bin Fraktionschef. Meine Aufgabe ist, dass wir unsere Zusagen auf gesamteuropäischer Ebene einhalten, und da war der Akzent, mehr Investitionen zu setzen, einer, den wir nun liefern müssen. Darüber gibt es in der EVP auch gar keine Debatten. Der Weg, den wir gegangen sind, war richtig. Langsam haben wir wieder Wachstum, eine geringere Schuldenquote, die Arbeitslosigkeit geht zurück.

STANDARD: Sie sind ein deutscher Christdemokrat, verändert man seine Position, wenn man auf europäischer Ebene tätig ist, und wie?

Weber: Natürlich sieht man manches differenzierter, es ergibt eine andere Perspektive auf die Themenfelder, wenn man beispielsweise ständig mit spanischen, mit französischen Politikern spricht. Aber die größere Erkenntnis für mich ist, dass es in den entscheidenden Zukunftsfragen für die Union, für Europa als Ganzes, in der Fraktion zwischen den einzelnen Parteien kaum einen Streit gibt. In der Migrationsfrage oder darin, wie wir im Kampf gegen den Terror reagieren müssen, ist man sich im Grunde einig. Das gilt auch für die Währungspolitik.

STANDARD: Wenn man an Orbán denkt, dessen Fidesz in der EVP ist, kann das aber kaum so harmonisch sein, wie Sie schildern. Über die Position zu Russland gibt es große Uneinigkeit, oder?

Weber: Ich sage ja nicht, dass es keine Debatten gibt bei uns. Orbán setzt seine Akzente, keine Frage, aber es ist dann nicht so, dass er auf Blockadekurs und Destruktion geht. Er nimmt sich sein Recht heraus, aber ich hätte nie Sorge, dass er zum Beispiel gemeinsamen EU-Sanktionen gegen Russland nicht zustimmen könnte. Er wird unseren Weg weiter mitgehen.

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Orbán (re.) werde Sanktionen gegen Putin immer mittragen, glaubt Weber.
Foto: reuters/LASZLO BALOGH

STANDARD: Die dauernden Erfolge der extremen Rechten in Europa, die an der EVP knabbern, machen Ihnen keine Sorgen, wie zuletzt in Finnland?

Weber: Der Populismus in Europa ist die größte Herausforderung. Jean-Claude Juncker hat gesagt, dass es für das Projekt Europa entscheidend sein wird, ob wir die Unterstützung der Menschen bekommen. Das ist eine zentrale Herausforderung.

STANDARD: Wie wollen Sie die Auseinandersetzung mit den Rechten führen? Juncker ist dabei auffällig deutlich, auch verbal, geht in den Infight.

Weber: Wir müssen die Auseinandersetzung suchen, wir sollten in keiner Weise versuchen, deren Botschaften zu kopieren. Wir müssen unseren Europakurs vertreten, auch wenn der Wind von vorn kommt. Wir müssen beim Kampf um die Deutungshoheit über Europa die größeren Dimensionen klarmachen. Ich glaube, dass den meisten Menschen doch bewusst ist, was wir uns erarbeitet haben in Europa, die offenen Grenzen, Partnerschaft, Zusammenhalt, Wirtschaftswachstum, auch wenn das aufgrund von Problemen auf dem Prüfstand steht. Wir müssen über die großen Probleme unserer Zeit mit den Bürgern offen reden, aber uns von den radikalen Rechten und Linken klar abgrenzen, eine klare Kante ziehen.

STANDARD: Eines der ganz großen Themen im EU-Parlament ist das geplante Handelsabkommen EU/USA. Wird es für TTIP im Plenum eine Mehrheit geben?

Weber: Es ist ein wichtiges Werkzeug, um das Wachstum in Europa zu steigern. Wir brauchen den Welthandel, sonst wird Europa keine gute Zukunft haben. Dazu kommt der geostrategische Aspekt. Wenn die zwei größten Wirtschaftsblöcke der Welt, die demokratisch sind, zusammenarbeiten, dann kann es uns gelingen, im Wettbewerb mit Asien die Standards zu setzen.

STANDARD: Aber es sieht so aus, als würden immer mehr EU-Abgeordnete gegen TTIP sein. Rechnen Sie damit, dass die Sozialdemokraten am Ende zustimmen, sonst dürfte es nach der Festlegung von Grünen, Linken und den antieuropäischen Fraktionen und den extremen Rechten kaum eine Mehrheit geben?

Weber: Ich stelle fest, dass die Sozialdemokraten mehr interne Debatten zu TTIP haben als wir. Es wäre sicher wünschenswert, wenn sie ihre Linien ordnen. Ich würde mir auch vom österreichischen Bundeskanzler, der hier in Brüssel für TTIP ist, wünschen, dass er das auch zu Hause zu erkennen gibt. Hier stimmt er zu, in Wien listet er die ganzen Probleme damit auf, er widerspricht sich ein Stück weit. Die Sozialdemokraten sollten auch dafür werben, wofür sie stimmen.

STANDARD: Wird es mit Jahresende zur Abstimmung kommen?

Weber: Wir haben ein klares Verhandlungsmandat dazu, die zuständige Kommissarin arbeitet daran. Wir sind uns der Problembereiche bewusst. Wir wollen die europäischen Standards verteidigen, und ich glaube, dass es gelingen kann, einen vernünftigen Kompromiss zu finden, dem beide Seiten, die USA und die EU, zustimmen können, der dann auch eine Mehrheit im EU-Parlament findet. (Thomas Mayer, Langfassung, derStandard.at, 24.4.2015)