Tracey Emin lernte Egon Schiele über Plattencover David Bowies kennen. Im Bild: die britische Künstlerin vor "I whisper to my past do I have another choice" (2013).

Foto: Der Standard/Matthias Cremer

STANDARD: Bei Egon Schieles Akten denken viele an die auf dem Bett ausgestreckten Mädchen mit gespreizten Beinen. Solche Blicke aufs Genital findet man in Ihren Zeichnungen auch. Aber kann man den männlichen Blick und die weibliche Selbstsicht vergleichen?

Emin: Ich denke, es macht einen Unterschied. Aber: Mit achtzehn habe ich sexy Zeichnungen von mir gemacht. Wüssten die Betrachter nicht, dass sie von einer Frau stammen, würden sie sich wahrscheinlich ähnlich fühlen wie vor einer Arbeit Schieles.

STANDARD: Sie haben es verneint, Schieles Akte als Erotika zu betrachten. Warum?

Emin: Als Schiele diese Frauen malte, hat doch nahezu jeder mit Sex experimentiert; es gab eine sexuelle Befreiung in intellektuellen Kreisen. Ich glaube, Schiele spielte mehr mit diesen Ideen.

STANDARD: Schiele hat das Genital mit weggeschobener Kleidung regelrecht eingerahmt, ihm die gleiche Wertigkeit gegeben wie dem Antlitz im Porträt. Gefällt Ihnen diese Idee?

Emin: Ich habe zehn Jahre zugebracht, einen Penis zu malen, ein Gemälde, das ich nie verkaufen würde. Ich liebe es. Er gehört niemandem, ich habe ihn nirgends gesehen, aber für mich ist es der perfekteste, perfekteste, perfekteste Penis. Ich mag Gustave Courbets Bild Origin du monde (der Schoß als Ursprung der Welt, Anm.). Viele Feministinnen hassen es, weil der Kopf fehlt. Aber ich finde es fantastisch - mit dem Schamhaar und allem. Wofür zur Hölle braucht es einen Kopf? Aber wenn jemand ein Bild von mir mit dem verbinden würde, was in mir vorgeht, fühlte ich mich schon angegriffen. Meine Seele lebt nicht in meinem Kopf. Schiele hat recht: Es zeigt sich etwas vom Wesen im Genital, aber es ist eben nicht alles. Und er zeichnete ja auch nicht nur Vaginen, sondern auch Berge, Bäume und Blumen. Gerade sagte jemand, dass sich mein ganzes Werk auf die Vagina konzentriert. Aber nein, tut es nicht!

STANDARD: Ein Berg-Bild Schieles haben Sie zentral positioniert.

Emin: Es ist eines meiner Lieblingsbilder, weil man eine Figur darunter erkennen könnte. Warum müssen wir der Mensch sein, warum können wir nicht der Berg sein? Wir wollen Natur? Wir können Natur sein - der Strand, das Meer. Das bezieht sich auf Spinoza, meinen Lieblingsphilosophen.

STANDARD: Sie haben sehr explizite Geschlechtsverkehr-"Landschaften" mit einem entblößten Mädchen Schieles kombiniert. Warum?

Emin: Wenn dort ein Junge stehen würde, der seine Hosen herunterlässt, dann würde man das lustig finden. Mit einem Mädchen ist das plötzlich etwas, worüber man beunruhigt ist. Und daneben hat man die Frau, die auf dem Mann sitzt, und ihre Verletzlichkeit verschwindet. Wäre es umgekehrt - Mann auf Frau -, würde jeder sagen, die Szene sei brutal. Dieses Bewegen von Vorstellungen ist das, was Kunst tun sollte. Sie muss uns bannen, uns motivieren, innezuhalten und nachzudenken.

STANDARD: Wie war es, mit einer "Ikone" zu arbeiten, mit Kunst, die nicht mehr hinterfragt wird?

Emin: Es geht genau darum, das Feld der Kritik wieder zu öffnen. Niemand hat jemals ein Schiele-Bild isoliert (vom Kontext, Anm.) gesehen. Wir ändern diese Wertigkeiten, geben ihm Luft zum Atmen, lassen Schiele frei von Österreich, schicken ihn in die Welt hinaus, damit er dort auf zeitgenössische Art neu betrachtet werde.

STANDARD: Die sexuellen Offenbarungen in einigen Ihrer Arbeiten werden gerne als Provokation verstanden. Wie ist es, stetig auf dieses Klischee reduziert zu werden?

Emin: Es geht mir wirklich auf die Nerven. Eine Journalistin sagte kürzlich: "Sie haben doch dieses Zelt gemacht mit den Namen aller, mit denen sie Sex hatten." Ich widersprach. Es geht um Intimeres, um die Menschen, mit denen ich geschlafen habe. "Ja, aber Sie hatten Sex mit vielen." Ich verneinte wieder. Sie war nicht an dem interessiert, was ich zu sagen hatte. Das hat mich wirklich wütend gemacht. Egon Schiele wird auf eine kurze Zeit reduziert, mich sperrt man in die Londoner Periode zwischen 1990 und 2000, kategorisiert mich als schockierende Künstlerin. Aber ich mache nichts, um jemanden zu schockieren. Wenn man das wollte, wäre es einfach. So wie man, wenn man viel Geld machen will, auch lieber an der Börse arbeiten sollte. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 24.4.2015)