Menasse vor Sankt Othmar: "Wir mussten als Kinder die Köpfe tief in den Nacken legen, um zuerkennen, was auf der Kirchturmspitze steckt. Nein, kein Kreuz, sondern Mondsichel und Morgenstern."

Foto: Lukas Beck

Jeder wächst im Dorf auf, auch wenn er in der Großstadt geboren wird. Denn als Kind erweitert man nur langsam den vertrauten Radius: Zimmer, Haus, Gasse, Viertel. In meinem Fall kommt hinzu, dass in Wien, der Hauptstadt von Neurose und Minderwertigkeitskomplex, allzeit die Rede vom Dorf geführt wird. Hört man den Wienern zu, leben sie in der dörflichsten Metropole der Welt - vielleicht stimmt das ja auch.

Wenn wir, was selten geschah, spät nach Hause kamen und durch die menschenleere Löwengasse gingen, kicherte mein Vater auf diese dünne und helle Weise, die das Maximum an Verachtung ausdrückte: "Und das", höhnte er, "soll eine Großstadt sein."

Das Referenzsystem seiner Kindheit war London, wo es, wie er mir versicherte, undenkbar sei, dass irgendeine, und noch die abgelegenste Straße, um halb elf Uhr abends derart ausgestorben ist. Als Kind beneidete ich ihn um sein summendes London, bis ich begriff, was der Preis dafür gewesen war. Mich hatten die Wiener ja nicht hinausgeschmissen, vertrieben, verfolgt. Ich durfte jeden Abend an der Hand meiner Eltern nach Hause gehen.

Jahrelang hineingeträumt

Wir wohnten nicht direkt in der Löwengasse, sondern in einer kleinen Nebenstraße. Die Löwengasse war die prächtigste Straße, die ich damals kannte. Rote Straßenbahnen sausten bimmelnd hin und her. Man konnte damit entweder "in die Stadt", also ins Zentrum, oder umgekehrt in den Prater fahren. Zwei steinerne Löwen thronen links und rechts auf den Dächern jener beiden Häuser, zwischen denen sich die Löwengasse verbreitert und Rudolf-von-Alt-Platz nennt. Die Löwen waren genau wie die in Venedig, nur höher oben. Ein Punkt für Wien.

Alles, was wir brauchten, kauften wir hier. Der Fleischhauer hatte meinen Vater noch Fußball spielen sehen und bekam, als er den Namen hörte, leuchtende Augen. Leider hatte er meine Mutter zuerst für die Tochter jenes berühmten Fußballspielers gehalten - so lang schienen ihm dessen Sternstunden her zu sein.

Als ich in die Volksschule kam, ging ich jeden Tag die Löwengasse entlang; als ich ins Gymnasium kam auch, nur in die andere Richtung. Keine andere Straße kenne ich so gut. In das prächtigste ihrer Häuser, in das Palais des Beaux Arts, habe ich mich jahrelang hineingeträumt, genauer gesagt in seinen Turm. Man konnte ihn von unserer Wohnung gut sehen und ich beobachtete ihn täglich mit dem Feldstecher. Ich bildete mir ein, dass hinter den Scheiben heimliche Gestalten hin und her huschten. Wahrscheinlich las ich gerade Enid Blyton. Auf alle Fälle wollte ich später unbedingt dort wohnen, in dem achteckigen, zweistöckigen Turm mit Fenstern nach allen Seiten. Wenn ich ehrlich bin, möchte ich das immer noch, selbst wenn ich dafür wieder zurück nach Wien ziehen müsste.

Seither hat sich alles verändert, und trotzdem ist alles gleich geblieben. Die Löwengasse ist und bleibt irgendeine Vorstadtstraße und gleichzeitig Rückgrat des Gassengewirrs, das sich Weißgerberviertel nennt. Was früher eine vornehme Drogerie gewesen ist, ist heute ein Souvenirshop. Die konkurrierenden Konditoreien - die eine leistete sich eine moderne, dunkelbraune Kunststofffassade, die andere hatte dafür den besseren Kuchen - sind schon so lange verblichen, dass egal geworden ist, welche damals den Konkurrenzkampf gewonnen hatte.

Ebenso verblichen ist die Souterrain-Ballettschule, in deren Tutus man mich für kurze Zeit gezwungen hat. Das Schönste an dieser Kinderschinderstätte war der Name der honigblonden Leiterin, Nessy Schulz-Eulenburg, den mein Vater genial in "Schnultzi Fuchs-Laxenburg" verdrehte. Damit war über die strenge, überkandidelte Dame, die aussah, als hätte sie noch für den Kaiser Franz Joseph getanzt, alles gesagt.

Damals gab es auch einen spiegelnd kahlen alten Mann in einem blauen Arbeitsmantel, der jeden Tag freundlich lallend vor seinem Messergeschäft stand. Vor ihm wurden wir Kinder gewarnt. Heute wäre so etwas wohl nicht mehr möglich: Dass ein vermutlich bloß sprachbehinderter Mann, vor dem man einerseits die Kinder warnt, andererseits ein Messergeschäft führen darf.

Hingegen halten sich an dieser unattraktiven Adresse seit langem: ein italienisches und ein chinesisches Speiselokal. Auch an der Gastronomie lässt sich eben der Allgemeinzustand im Löwengassenland ablesen. Wer schick ausgehen oder nur gut essen gehen will, muss "in die Stadt" oder mindestens bis zur Landstraße hinauf.

Die Straßenbahn schießt immer noch klingelnd die Löwengasse entlang, dass, wie es bei Doderer heißt, "die Oberleitungen summen". Kürzlich hat man die Post zugesperrt, und jüngst noch die Bank. Die Pensionisten sind verzweifelt, aber alle anderen zucken bloß die Schultern und "gehen ins Internet". Die unangenehmen Effekte der Globalisierung, die uns alle reich gemacht hat, treffen auch hier ein.

Und es gibt noch eine andere auffällige Veränderung, mit der eine sardonische historische Volte geschlagen wurde. Dazu muss ich etwas ausholen.

An jenem Ende der Löwengasse, das der Innenstadt am nächsten ist, steht, im Backstein-Ensemble mit meiner ehemaligen Volksschule, die Kirche Sankt Othmar. Aus der Schule hinaus, vor diese Kirche wurden wir Kinder geführt, als die Türkenbelagerung durchgenommen wurde. Wir mussten die Köpfe ganz tief in den Nacken legen, um zu erkennen, was auf der obersten Kirchturmspitze steckt. Nein, kein Kreuz, sondern Mondsichel und Morgenstern. Die Vorgängerkapelle war 1683 von den Türken niedergebrannt worden. Dass das osmanische Heer zwar da gewesen ist, aber unverrichteter Dinge abziehen musste, daran erinnert dieses Symbol, auf, wie ich finde, beispielhaft souveräne Weise. Denn schließlich verdanken wir den Türken, auch das lernte man in der Volksschule, Kaffeehaus und Kipferl.

Das andere Ende dieser Straße wurde bis vor wenigen Jahren von einem riesigen, überteuerten Modegeschäft dominiert. Dieses immer leere Geschäft hieß "Turek", tschechisch also "Türke". Ich kenne keinen Menschen, der es je betreten, der Bedarf für die hellbeigen Anzüge, für die zeitlos gemusterten Kostüme gehabt hätte.

Dennoch stand es da, Jahre, Jahrzehnte, eine untote Instanz. Der Turek. Niemanden kümmerte das Geschäft oder sein Überleben. Als es dann aber, beinahe überraschend, doch noch zusperrte und ein türkischer Supermarkt einzog, waren die "echten Wiener" empört. Eine Bekannte meiner Familie redete sogar von "Schande". Da lief meine Mutter, die 1945 als polnisches Flüchtlingskind nach Wien gekommen war, zur Hochform auf: "Wieso Schande?", fragte sie messerscharf, "der Türke ist ja nicht schuld am Konkurs des ,Turek'. Und das Fleisch dort ist übrigens frisch und günstig!" Denn auch den fußballbegeisterten Fleischhauer gibt's natürlich schon lange nicht mehr.

Das also ist meine erste Heimat Löwengasse: Vorne erinnert die Kirche qua Moschee-Symbol an Vorgänge vor dreihundertdreißig Jahren, hinten hat neulich ein türkischer Lebensmittelhändler die Altwiener Modeverirrung "Turek" abgelöst. Dazwischen liegt, unverwüstlich, die pittoresk abgetakelte Vorstadt mitsamt dem goldenen Wiener Herz. (Eva Menasse, Album, DER STANDARD, 25./26.4.2015)