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"Die Regierung und die Zweite Republik geschaffen": Andrej Sorokin über Karl Renner

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Historiker Andrej Sorokin

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STANDARD: Welche Rolle spielte die Sowjetunion bei der Herausbildung der Zweiten Republik?

Andrej Sorokin: Eine Schlüsselrolle. Fast während des gesamten Zweiten Weltkriegs haben die Sowjetführung und Stalin die Notwendigkeit betont, Österreichs Unabhängigkeit wieder herzustellen. Das Thema wurde beim Moskauer Treffen der alliierten Außenminister 1943 und bei der Teheran-Konferenz debattiert. Bei der Jalta-Konferenz kehrte Stalin mehrfach zur Besprechung der Frage zurück, wobei seine politische Linie der Churchills widersprach.

STANDARD: Worin bestand diese?

Sorokin: Churchill lobbyierte zwei verschiedene, aber konzeptuell ähnliche Varianten: Eine sah die Schaffung eines süddeutschen Bundes, die zweite eine Donau-Föderation, beide mit der Hauptstadt Wien, vor. Stalins Konzept war wie Churchills vom Streben um Einflussbereiche gekennzeichnet. Er sieht dabei nicht schlechter und nicht besser aus als jener.

STANDARD: Gab es Verabredungen über Österreichs Zugehörigkeit zu einem bestimmten Einflussbereich?

Sorokin: Nein, dazu gab es keine Gespräche. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Stalin Österreich zur Pufferzone zählte. Zugleich hegte er keine Illusionen über kommunistische Sympathien der Bevölkerung.

STANDARD: Warum ließ Stalin Karl Renner die Regierung bilden?

Sorokin: Wir haben keine Dokumente, dass Stalin Renner gesucht hat. Wir haben Renners Briefe an Stalin und wissen um Stalins Reaktion darauf. Meiner Meinung nach hat er nur operativ auf Renners Offerte reagiert und die Gelegenheit genutzt. Andere Kandidaten gab es nicht, sodass er keine große Wahl hatte. Renner hatte in Österreich politisches Gewicht, und jeder an Stalins Stelle hätte die Chance ergriffen. Aber eigentlich hat Renner alle überspielt: Er hat die Regierung und die Zweite Republik geschaffen, indem er Stalin und die West-Alliierten von seiner Loyalität überzeugte.

STANDARD: Geht aus den Briefen hervor, welche Beziehung zwischen beiden Politikern herrschte?

Sorokin: In unserem Archiv gibt es nur einen persönlichen Brief Stalins an Renner, dem zufolge dieser ihm zum Jubiläum gratulierte. Das ist ein sehr kurzer und formaler Brief. Auf vorherige Briefe antwortete Stalin über die Leiter des sowjetischen Außenministeriums. Freundschaft, politische oder menschliche Sympathien haben die beiden nicht miteinander verbunden. Die Kooperation fand auf rein rationaler Ebene statt, obwohl Renner zuerst versuchte, menschlichen Kontakt herzustellen.

STANDARD: War Stalins Tod Vorbedingung für die erfolgreichen Verhandlungen zum Staatsvertrag?

Sorokin: Die Gespräche dazu fingen schon unter Stalin an, liefen aber wegen des beginnenden Kalten Krieges sehr mühsam. Stalins Tod hat Schleusen geöffnet. Die neue sowjetische Führung war liberaler eingestellt und verstand, dass es in Österreich im Gegensatz zu Osteuropa keine soziale Basis für ein kommunistisches Regime gab.

STANDARD: Gibt es heute ein besonderes bilaterales Verhältnis, auf Moskaus Rolle bei der Gründung der Zweiten Republik begründet?

Sorokin: Ja und nein. Mir scheint die Entscheidung der österreichischen Politiker, die Einladung zur Siegesparade in Moskau abzulehnen, falsch. Das widerspricht dem Geist der Beziehungen zwischen unseren Ländern. Zugleich sehe ich ein entspanntes Verhältnis der Österreicher zu Russland, dessen Herzstück Dialogbereitschaft ist. Größtes Verdienst der Politiker jener Zeit ist es, die Basis für die Dialogbereitschaft und gegenseitige Achtung gelegt zu haben. (André Ballin, DER STANDARD, 25.4.2015)